- Politik
- Debatte um Rechtsruck
Rechts ja, Ruck nein
So naheliegend die Selbstbeschreibung eines »Rechtsrucks« wirkt, sie ist falsch und verharmlosend
Vergangene Woche veröffentlichte Mely Kiyak ihre letzte Theater-Kolumne am Berliner Gorki-Theater. Sie beendete damit ihre langjährige Kommentierung des Weltgeschehens unter dem Titel »Es ist alles gesagt«. Eindrücklich heißt es in dem Text, wir seien »Zeitzeugen« des gegenwärtigen Machtgewinns der Faschisten. »Maximal zwei Bundestagswahlen, dann haben sie die Kontrolle.« Die Angst davor, dass es genau so kommen könnte, ist derzeit bei vielen präsent und Kiyaks Prophezeiung des Faschismus traf sofort einen Nerv. Viel wichtiger als diese Drohkulisse ist jedoch ihre resignierte Einsicht, dass sie die letzten 15 Jahre »dazu alles, wirklich alles, geschrieben« hat. Das Erstarken der Rechten und deren erfolgreicher Kulturkampf sind schon lange absehbar gewesen. Und diejenigen, die hingesehen haben oder es mussten, haben dazu schon alles gesagt.
In der liberalen Öffentlichkeit hat sich für die gegenwärtige Situation trotzdem ein Begriff durchgesetzt, der das Erstarken rechter Kräfte als plötzliche und unvorhersehbare Entwicklung, als schnelle wie starke Bewegung bezeichnet: Rechtsruck. Politische Gewinne der AfD in Umfragen oder Landtagswahlen, Umfragen, die eine weite Verbreitung rechter Einstellungen offenbaren, die Annäherung bürgerlicher Parteien an Forderungen wie Migrationsabwehr, der Höchststand rassistischer und antisemitischer Gewalt – all das mag überwältigend und skandalös erscheinen, es ist aber weder plötzlich noch durch eine starke Bewegung gekommen. Die Rede vom Rechtsruck bedient das Bedürfnis nach medialer Empörung, hat aber analytisch keinen Gehalt. Es handelt sich genau genommen um einen falschen, verharmlosenden und gefährlichen Begriff.
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Rechte Kontinuitäten
Das erste Problem mit falschen Begriffen ist, dass man die Sache nicht begriffen bekommt. Niemand ist plötzlich rechts geworden, schon gar nicht ruckartig. Die Vorstellung vom Rechtsruck geht über die Kontinuitäten rechter Einstellungen in der liberal-demokratischen Bundesrepublik hinweg, als wären Baseballschlägerjahre, Pogrome und Asylrechtsverschärfung, Neonazi-Netzwerke und NSU-Terror in einem anderen Staat passiert. Zwar stellte die zuletzt veröffentlichte Mitte-Studie einen dramatischen Anstieg in der Verbreitung rechtsextremer Einstellungen fest, aber Erhebungen wie die Leipziger Autoritarismusstudie belegen seit gut 20 Jahren annähernd gleichbleibend hohe Zustimmungswerte.
Das bedeutet nicht, dass es kein drastisches Erstarken rechter Kräfte gibt, wie es sich in immer größeren Erfolgen der AfD und dem selbstbewussten Auftreten autoritärer bis offen faschistischer Positionen zeigt. Es bedeutet vielmehr, dass die Bezeichnung Rechtsruck am Verständnis des eigentlichen Problems vorbeigeht. Denn genau genommen zeigt sich in den aktuellen Entwicklungen eine neuartige Politisierung bestehender rechter Einstellungen und Ressentiments. Die lange Zeit unausgesprochenen Haltungen werden ungefilterter und lauter artikuliert, weil dazu eine neue Dringlichkeit gefühlt wird. Die Krisenwahrnehmung der letzten Jahre – von Rezessionen und Kriegen bis zur Drohkulisse durch die Klimakatastrophe – verdichtet sich zu einer diffusen und scheinbar alles umfassenden Bedrohung, die nicht umsonst eine Hochkonjunktur der Verschwörungsideologien mit sich bringt. Und diese Gemengelage von existenzieller Krise und unaushaltbarer Ohnmacht drängt förmlich zur Aktivierung.
Die autoritär-libertären Proteste der vergangenen Jahre machten diese Politisierung deutlich: Bestimmte Milieus von »Coronarebellen«, Verschwörungstheoretiker*innen und Teilen der Friedensbewegten zeigten eindeutig autoritäre Wünsche und regressive Einstellungen bis hin zur Holocaustrelativierung – sie verstanden sich aber als Bastion gegen den »Wahnsinn«, als Vertreter*innen des gesunden Menschenverstands, als weder rechts noch links. Was sie auf die Straße und in den eingebildeten Widerstand trieb, war nicht eine plötzlich gewandelte Einstellung, sondern die Empfindung einer neuen Dringlichkeit des politischen Kampfs. Angesichts der »drohenden Diktatur« fühlten sie sich wohlmöglich tatsächlich wie eine Sophie Scholl oder wie »die neuen Juden«. Es galt, Stellung zu beziehen in einem vermeintlich alles bedrohenden Kampf, den sie bis in die banalsten Kleinigkeiten von Sprachregelungen hineinfantasieren.
Dieses Unbehagen gegen den Zustand der Welt, die diffuse Bedrohung und die Dringlichkeit zum Verteidigungskampf sind der ideale Nährboden für die Agitation von rechts. Denn diese bietet traditionell keine Aufklärung (also noch mehr Verunsicherung durch komplizierte Reflexion auf systemische Zusammenhänge und Selbstzweifel), sondern schlicht Bestärkung. Der Erfolg dieser Kräfte liegt an der Bearbeitung jener Grundstimmungen zu einfach noch mehr Angst, mehr Bedrohung – und in der unmittelbaren Möglichkeit zum Widerstand. Es ist gewissermaßen das Angebot, die bestehenden Ressentiments in die Tat umzusetzen. Die eigenen Überzeugungen als die richtigen auszuagieren in einer kaputten Welt voller Lug und Trug ist ungeheuer attraktiv.
Ein Ruck geht durchs Land?
Die Rede vom Rechtsruck ist daher nicht einfach nur ungenau, sondern sie spielt dieser Form von rechter Aktivierung noch zusätzlich in die Hände: Wenn das Erstarken rechter Kräfte weniger in einem Gesinnungswandel denn in einer neuen Politisierung von Ressentiments und autoritären Denkmustern liegt, so kommt den rechten Kräften eine Bezeichnung als starke und unmittelbare Bewegung durchaus gelegen. Dem Ruck, der angeblich durchs Land geht, muss man sich nur noch anschließen. Das Angebot zur Aktivierung wird immer niedrigschwelliger.
»Rechtsruck« ist daher eine Art selbsterfüllende Prophezeiung. Denn ist die Assoziation zur Massenbewegung erst einmal hergestellt, so verselbständigt sich schnell die Dynamik der Aktivierung. Aus der Massenpsychologie ist weithin bekannt, dass individuelle Unsicherheiten, narzisstische Kränkungen und Minderwertigkeitskomplexe – die sich allesamt aus den gesellschaftlichen Verhältnissen erklären lassen – nur allzu gut in einer Gruppenidentifikation aufgehen können. Je bedrohlicher die Lage und je größer und stärker diese Gruppenidentität fantasiert wird, desto reizvoller ist es, sich mit ihr zu identifizieren. Motive wie eine »schweigende Mehrheit« bis hin zur fehlenden Abgrenzung der AfD zu militanten Neonazi-Netzwerken sind genau in diesem Sinne zu verstehen: sie sollen Masse und Stärke suggerieren.
Taugt der Begriff des Rechtsrucks also eventuell doch, um eine solche verselbständigte Dynamik zu begreifen? Dass also, wie an einem klimatischen Kipppunkt, eine Schwelle überschritten wird, an der es plötzlich unvorhergesehen schnell geht mit den Bekenntnissen nach rechts? Ähnlich haben es die Sozialwissenschaftler*innen Daniel Mullis, Maximilian Pichl und Vanessa E. Thompson in einem Gastbeitrag für die »Taz« beschrieben, als sie vor »autoritären Kipppunkten« in der Zunahme antidemokratischer Tendenzen warnten. Aber die Debatten um Rechtsruck nehmen auf solch fundierte Analysen kaum Bezug, der Begriff bleibt zumeist eine bloße Beschreibung und liefert damit das Einfallstor, das Erstarken der Rechten als eine äußere und unerklärliche Kraft misszuverstehen.
Kräfte, die von außen wirken
Die Vorstellung vom Rechtsruck trägt so zu einer gefährlichen Entlastungserzählung der liberalen Demokratie bei. Denn die Bedrohung kommt hier stets von außen, damit die Idee der Demokratie an sich gut und unbeschadet bleiben kann. Unbeachtet bleibt dabei, dass Regression und rechte Umtriebe ihre Grundlage in der liberalen Demokratie haben. Denn dass rechte Anspielungen auf Souveränität, Massenbewegung und Stärke eine so enorme Attraktivität entwickeln, erklärt sich schließlich nicht aus sich selbst. Vielmehr reagieren diese Angebote auf einen Missstand im Liberalismus selbst, nämlich dessen Ohnmacht.
Damit ist nicht gemeint, dass AfD wählen eine rationale Konsequenz aus dem Versagen liberaler Politik wäre. Das Problem liegt tiefer, nämlich in der »Tendenz des Liberalismus, in Faschismus umzuschlagen«, wie es Max Horkheimer bereits in den 30ern formulierte. Denn wir leben in einer Gesellschaft, die bereits frei und gleich sein soll – der Idee nach. In der Wirklichkeit gibt es aber Ungleichheit, Armut und Zwänge, die zu dieser Idee im Widerspruch stehen. Liberale bürgerliche Kräfte müssten sich also entweder eingestehen, dass ihre Gesellschaftsordnung systematisch Unfreiheit und Ungleichheit hervorbringt, um daran etwas zu ändern. Oder aber sie beharren weiter darauf, dass der Idee nach schon alles gut und richtig läuft. In Krisen wird dann »mehr desselben« gefordert, mehr Demokratie und eine stärkere Zivilgesellschaft. Am strukturellen Widerspruch ändert das aber nichts, gegen diesen bleibt der Liberalismus ohnmächtig. Je größer der Zwiespalt wird, umso deutlicher wird die liberale Idee zur Ideologie.
Rechte Kräfte greifen daher den Liberalismus direkt an: Sie nutzen den gedanklichen Kurzschluss, die freiheitliche Ordnung sei insgesamt nur die Lüge einer korrupten Elitenherrschaft – und können ihre extrem ungleichen Politiken demgegenüber sogar als Wahrheit verkaufen. Diversity, Gendern und Regenbogenfahne werden zur Chiffre für die liberale Lüge und stellvertretend bekämpft. Das Leiden an Zwang und Unfreiheit kann so schnell zum Hass auf die liberale Demokratie als Ganze überspringen. Solange sich aber die bürgerliche Gesellschaft erzählt, dass eigentlich alles in Ordnung sei, wenn die Rechten nur nicht so stark wären, bereitet sie den Boden für jene Ressentiments, die jetzt als Rechtsruck dargestellt werden.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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