Margot Käßmann: »Wo soll das noch hinführen?«

Die Ex-Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche, Margot Käßmann, über Waffenlieferungen, die Letzte Generation und Spiritualität

  • Interview: Philipp Hedemann
  • Lesedauer: 9 Min.
Margot Käßmann – Margot Käßmann: »Wo soll das noch hinführen?«

Frau Käßmann, Sie gehörten im Februar zu den Erstunterzeichnern des von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer initiierten »Manifests für den Frieden«. Darin wird gefordert, »die Eskalation der Waffenlieferungen zu stoppen« und sich »für einen Waffenstillstand und für Friedensverhandlungen« zwischen Russland und der Ukraine einzusetzen. Würden Sie das heute noch unterschreiben?

Ja. Aber ich verstehe inzwischen, dass manche beim Manifest eine Exegese mit einer Hermeneutik des Verdachts unternommen haben. Als ich den Text unbefangen gelesen habe, hatte ich diese Unterstellungen gegenüber Sahra Wagenknecht nicht im Hinterkopf und fand den Text okay. Vor allen Dingen fand ich es wichtig, dass auch den Waffenlieferungen gegenüber kritische Stimmen endlich mal Gehör finden. Und dass mehr als 800 000 Menschen in kürzester Zeit das Manifest unterschrieben haben, zeigt doch, dass es in unserem Land viele Menschen gibt, die Waffenlieferungen kritisch sehen. Öffentlich wird jedoch so getan, als entsprächen die Waffenlieferungen der absolut klaren Mehrheitsmeinung.

Sie sind nach wie vor gegen Waffenlieferungen an die Ukraine?

Ja. Mehr denn je. Jetzt werden sogar Streubomben geliefert. Wo soll das noch hinführen?

Interview

Margot Käßmann (65) war Landesbischöfin der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers und Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche. Dann überfuhr sie betrunken eine rote Ampel und trat zurück. Deutschlands beliebteste Kirchenfrau blieb sie trotzdem. Margot Käßmann hat vier erwachsene Töchter und sieben Enkelkinder. 2007 ließen sie und der Vater ihrer Kinder, Pastor Eckhard Käßmann, sich scheiden. Seit 2014 ist sie mit ihrer Jugendliebe, dem Ingenieur Andreas Helm, liiert. Jetzt hat sie ein Buch über die Freuden des Oma-Seins geschrieben.

Gibt es für Christen einen gerechten Krieg?

Nein, es gibt keinen gerechten Krieg. Sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche sprechen nicht mehr vom »gerechten Krieg«, sondern nur noch vom »gerechten Frieden«. Allerdings gibt es in beiden Kirchen unterschiedliche Meinungen zu Waffenlieferungen. Die Mehrheit der Kirchenleitung in beiden Kirchen ist mit Verweis auf das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine für Waffenlieferungen. Es gibt in beiden Kirchen aber auch die pazifistische Stimme – und zu der gehöre ich.

Was schlagen Sie vor? Wie soll die Ukraine sich ohne Waffenlieferungen gegen den russischen Aggressor verteidigen?

Eine schwierige Frage. Ich bin nicht Ukrainerin, ich kann deshalb nichts für die Ukrainer entscheiden. Ich kann mir nur als Deutsche meine Meinung bilden. Und als Deutsche finde ich es richtig, dass Deutschland keine Waffen in Krisen- und Kriegsgebiete liefert. Ich bin ohnehin gegen Rüstungsexporte. Bislang gab es zumindest den Konsens, dass keine Waffen in Kriegs- und Krisengebiete geliefert werden. Ich finde es schwierig, dass das einfach innerhalb von drei Tagen über den Haufen geworfen wurde. Das öffnet Tür und Tor für weitere Waffenlieferungen. Die Kurden, die Rohingya, die Uiguren – es gibt viele, die gerne Waffen von uns hätten, um für eine sehr gerechte Sache zu kämpfen.

Sollte Deutschland deshalb den Ukrainern die Unterstützung mit Waffen verwehren?

Deutschland hätte wie Österreich reagieren können und sagen: Wir liefern keine Waffen in Kriegsgebiete.

Welche Rolle spielt die deutsche Vergangenheit bei Ihrer Ablehnung der Lieferung von Waffen, die gegen Russland eingesetzt werden?

Mit Blick auf unsere Geschichte finde ich es fatal, dass deutsche Panzer gegen Russen eingesetzt werden. Aber mir geht es vor allem um die Eskalationsspirale und um die Auswirkungen, die die massiven Waffenlieferungen auch auf das Leben in Deutschland haben. Das kriegen wir alle gerade zu spüren. Die Inflation bei Lebensmitteln liegt bei 22 Prozent. Das trifft vor allem Familien und die Ärmsten in unserem Land besonders hart. Immer mehr Menschen müssen zu den Lebensmittelausgaben der Tafeln gehen. Und als Großmutter halte ich es mit Blick auf die Zukunft der Kinder für einen völlig falschen Ansatz, 100 Milliarden Euro in Rüstung zu investieren, aber nicht in der Lage zu sein, die Kindergrundsicherung zu finanzieren.

Sie werden wegen Ihres Neins zu Waffenlieferungen gegen die Ukraine scharf kritisiert. Geht Ihnen das nahe?

Ja, ich nehme mir das zu Herzen. Aber wenn ich schon in der ersten Zeile lese: »Du verfickte Kirchenziege«, dann drücke ich die Delete-Taste. Früher habe ich mir noch alles durchgelesen, mittlerweile bin ich so altersgelassen, dass ich mir das nicht mehr geben muss. Ich argumentiere, wenn jemand mit mir argumentieren will. Aber ich lasse mich nicht mehr so unterirdisch beschimpfen.

Sie gelten als Ikone der deutschen Friedensbewegung. Ist die Friedensbewegung seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine tot?

Nein, sie ist ziemlich lebendig. Ich könnte jeden Monat auf einer Veranstaltung der DFG VK (Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte Kriegsdienstgegner*innen, Anm. d. Red.) einen Vortrag halten. Ich war zwar nicht auf der von Sahra Wagenknecht organisierten Demonstration in Berlin, aber ich habe auf den Februardemonstrationen in Bonn und in Köln sowie beim Ostermarsch in Hannover eine Rede gehalten. Allerdings schafft die Friedensbewegung es derzeit nicht, eine Großdemonstration wie beim Irak-Krieg 2003 hinzulegen. Damals waren wir allein in Berlin mit einer halben Million Menschen auf der Straße.

Warum gibt es jetzt keine großen Friedens- demonstrationen?

Viele Menschen sind sehr verunsichert. Sie wissen nicht, was in dieser Situation angesichts des russischen Angriffskrieges richtig ist. Ich finde es immer besser, Zweifel zu haben, als keine Zweifel zu haben, denn sie sind wichtig für die eigene Positionsfindung. Zudem ist es ein großes Problem, dass die AfD ständig versucht, die Friedensbewegung zu kapern. Dabei haben die Friedensbewegten nun wirklich gar nichts mit der AfD am Hut. Die AfD will unserem Land nicht Frieden bringen, sondern Unfrieden. Darum sage ich auch: Auf Friedensdemonstrationen der DFG VK ist kein Platz für Neonazis und Vertreter der AfD.

Nicht nur aus der katholischen Kirche treten immer mehr Menschen aus. Was muss die Kirche tun, um relevant zu bleiben?

Würde ich die Lösung kennen, hätte ich sie meinen Nachfolgern natürlich schon präsentiert. Ich denke, wir müssen vor allem an drei Dingen arbeiten: Erstens müssen wir es schaffen, dass wieder mehr Ortsgemeinden zu Orten gelingender Kirche werden, an denen Menschen gerne zusammenkommen, gemeinsam ihren Glauben feiern, beten, singen und sich zur Seite stehen, anstatt während des Gottesdienstes auf die Uhr zu schauen und zu hoffen, dass es bald vorbei ist. Ich kenne viele Gemeinden, in denen tolle Arbeit geleistet wird – allen Missbrauchsskandalen zum Trotz.

Was muss die Kirche noch tun?

Sich mehr um die Einsamkeit der Menschen kümmern. Einsamkeit ist ein Riesenthema, nicht nur bei alten, sondern auch bei jungen Leuten. Als Kirche bieten wir Orte, an denen Junge und Alte zwanglos zusammenkommen können, an denen niemand gefragt wird, ob er Mitglied ist oder nicht, an denen jeder willkommen ist. Ich finde es zum Beispiel toll, dass die Marktkirche in Hannover an heißen Tagen kostenlos Trinkwasser zur Verfügung stellt. Das lockt viele Menschen, unter ihnen auch Obdachlose, in die Kühle der Kirche.

Und was sollte das dritte große Thema für die Kirche sein?

Spiritualität! Antoine de Saint-Exupéry hat gesagt: Wenn die Leute ein Schiff bauen sollen, dann gib ihnen keine Baupläne, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem Meer. Aber wie ist das mit der Sehnsucht nach Spiritualität? Ich denke, viele Leute haben diese Sehnsucht. Für sie ist das Leben mehr als nur essen, trinken und arbeiten. Die Kirche muss sich fragen, warum viele Menschen die Antworten auf diese Sehnsucht nicht mehr in den Kirchen finden.

Warum gelingt es der Kirche nicht, die richtigen Antworten zu geben?

Wir leben in einer extrem individualisierten Gesellschaft, in der sich jeder seine eigene Glaubensform zusammenbastelt. Aber zur Kirche gehören auch feste Rituale und Gemeinschaftserfahrungen. Und das ist in einer Zeit, in der jeder für sich allein auf dem Handy rumtippt, für viele schon zu viel Verpflichtung.

Sollte die Kirche dem Zeitgeist hinterherlaufen und Rituale aufgeben, um wieder attraktiver zu werden?

Ich finde, sie braucht die richtige Balance. Wir brauchen dringend Gottesdienste und eine Sprache, in der mehr Menschen berührt werden. Aber die Kirche sollte auch nicht alles Althergebrachte über Bord werfen. Es ist nicht nötig, dass der Pastor mit Skateboard, aber ohne Talar in die Kirche kommt. Als ich Konfirmandin war, hatte ich einen Pastor, der gesagt hat: »Ihr könnt alle Christian zu mir sagen.« Das fand ich sogar als Konfirmandin anbiedernd.

Sie sind siebenfache Oma. Machen Sie sich Sorgen um die Zukunft Ihrer Enkel?

Natürlich mache ich mir Sorgen um meine Enkel. Ich denke, das geht allen Großeltern so. Ich bin der Überzeugung, dass meine Generation, die Generation der Babyboomer, es deutlich leichter hatte. Bei uns wurde gefühlt alles immer besser, heute droht die Klimakatastrophe. Aber meine Enkel machen mir auch Hoffnung. Wir sollten den Kindern von heute alle Möglichkeiten geben, ihre Welt zu gestalten. Meine Enkel sind nicht die letzte Generation.

Was halten Sie von den Klimaaktivisten der Letzten Generation?

Ich finde die Letzte Generation problematisch, weil mehr über ihre Methoden als über ihre Inhalte gesprochen wird. Ich glaube, jeder – außer vielleicht Donald Trump und der AfD – hat mittlerweile begriffen, dass es eine Klimakatastrophe gibt und wir etwas dagegen tun müssen. Wir brauchen jetzt Lösungen. Aber wir brauchen niemanden, der Kunstwerke beschmiert oder sich irgendwo festklebt. Das dient der Sache meines Erachtens nicht. Ich halte es für kontraproduktiv, weil es viele Leute wütend macht und dazu führen könnte, dass sie sich von den berechtigten Forderungen der Klimaschützer abwenden.

Sie sind im Juni 65 Jahre alt geworden und haben angekündigt, kürzer treten zu wollen. Weniger Medienpräsenz, weniger Talkshows, weniger Termine. Warum?

Ich finde es wichtig, auch loslassen zu können. Andererseits: Ich habe kein Schweigegelübde abgegeben, werde nicht verstummen. Wenn ich gefragt werde, werde ich schon noch was sagen. Aber ich möchte nicht mehr diesen Druck haben, jede Woche eine »Bild am Sonntag«-Kolumne schreiben zu müssen. Das habe ich neun Jahre lang gemacht. Ich habe keinen Sonntag ausgelassen. Es hat Spaß gemacht, aber ich finde, es ist dann auch mal gut.

Sie hatten zweimal Krebs, haben sich scheiden lassen, sind dabei erwischt worden, als Sie mit 1,54 Promille mit Ihrem Dienstwagen eine rote Ampel überfuhren und sind daraufhin als Landesbischöfin von Hannover und vom Ratsvorsitz der Evangelischen Kirche Deutschlands zurückgetreten. Ihr Leben war nicht immer leicht. Haben Sie je an der Existenz des lieben Gottes gezweifelt?

Nein. Im Vergleich zu sehr vielen anderen Menschen hatte und habe ich ein sehr, sehr gutes Leben. Ich bin in vielen Krisengebieten dieser Erde gewesen und habe gesehen, unter welchen Bedingungen Menschen leben müssen. Ich kann mich wirklich überhaupt nicht beschweren. Ich denke, der liebe Gott muss wirklich viel Humor haben (lacht.) Die Umstände, die zu meinem Rücktritt geführt haben, waren ja wirklich nicht angenehm. Damals hätte ich nicht gedacht, dass noch so viel Interessantes und Schönes auf mich zukommt. Ich glaube nicht, dass Gott Leid schickt – hier eine Krebsdiagnose, dort ein Tsunami –, sondern, dass er dir die Kraft gibt, mit den schwierigen Phasen des Lebens umzugehen.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.