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Konferenz »Racial Capitalism«: Ist der Kapitalismus rassistisch?
Wie Ausbeutung und Unterdrückung zusammenhängen wurde auf der Konferenz »Racial Capitalism« an der Universität Kassel diskutiert
Der Schwarze US-amerikanische Politikwissenschaftler Cedric Robinson prägte das Konzept des Racial Capitalism. Erwähnung fand es in seinem Buch »Black Marxism« von 1983, das allerdings erst nach einer vom Literaturwissenschaftler Robin Kelley herausgegebenen Neuauflage aus dem Jahr 2000 größere Beachtung fand. Darin kritisiert Robinson die bei marxistischen Antirassist*innen verbreitete Auffassung, dass Rassismus Produkt des Kapitalismus sei und bietet eine alternative Erzählung an: Formen von Rassismus seien bereits im europäischen Feudalismus Teil von Differenzziehung und Ausschlüssen gewesen und hätten sich mit der Entstehung des Kapitalismus verbreitet. Klassen hätten sich also anhand von rassistischen Kategorien gebildet, nicht andersherum. Obwohl Robinson Racial Capitalism nur sporadisch erwähnt, hob Kelley den Begriff in seinem Vorwort gleich mehrfach hervor und machte ihn so prominent.
Nun widmete sich eine Konferenz an der Universität Kassel dem Konzept. Unter dem Titel »Racial Capitalism. Marxismus trifft Postkoloniale Studien« organisierte das Fachgebiet Entwicklungspolitik und Postkoloniale Studien vom 5. bis 6. Oktober 2023 eine intensive Diskussion des Zusammenhangs von Kapitalismus und Rassismus.
Zwei ungleiche Theorien
Die Konferenz hatte sich zwei Dinge zum Ziel gesetzt: Zum einen sollte der Begriff Racial Capitalism auf seine Tauglichkeit für die Analyse der Gesellschaft diskutiert werden. Zum anderen wollte man die marxistische Kapitalismuskritik mit der poststrukturalistischen Tradition der Postkolonialen Studien zusammendenken. Racial Capitalism soll dabei helfen, so die Organisator*innen, diese beiden Ansätze einander anzunähern, um Antworten zu finden, wie Rassismus als Legitimation von Ausbeutung mit Formen von Alltagsrassismus und Unterdrückung zusammenhängt. Denn empirisch treten ökonomische und rassistische Differenzziehung gemeinsam auf – aber wie hängt beides nun zusammen? Wie ist das Verhältnis zwischen ökonomischen Faktoren wie Ausbeutung und nicht-ökonomischen Formen der Unterdrückung?
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Zu diesen Fragen wurden von Nachwuchswissenschaftler*innen auf 13 Panels unterschiedliche Forschungsansätze präsentiert, beispielsweise zu Migration und Grenzregimen, Wertschöpfungsketten, Arbeits- und migrantischen Kämpfen. Neben der Anwendbarkeit des Konzepts wurde die Frage diskutiert, ob es sinnvoll ist, Racial Capitalism als universellen Begriff zu verwenden, da unbestreitbar sei, dass Kapitalismus auf Rassismus und andere Ausbeutungsmechanismen wie Sexismus, Ableismus oder Gewalt angewiesen ist. Ergänzt wurden die Panels von zwei Vorträgen: Die britische Soziologin Gargi Bhattacharyya beschäftigte sich noch einmal eingehend mit dem Begriff »Racial Capitalism«, der deutsche Politikwissenschaftler Kolja Lindner beleuchtete das Verhältnis von Marxismus und Postkolonialen Studien.
Begriffsdebatten sind nicht sinnvoll
Kontroverse Diskussionen in Bezug auf Marxismus und Postkoloniale Studien waren zwar angekündigt, allerdings schien es unter den Teilnehmenden in dieser Hinsicht zunächst kaum Dissens zugeben. Gargi Bhattacharyya, die zu sozialer Ungleichheit forscht und 2018 das Buch »Rethinking Racial Capitalism« publiziert hat, vertrat in ihrem Vortrag die Annahme, dass sich jede antirassistische Analyse und Mobilisierung mit Kapitalismus als totalem gesellschaftlichem Zusammenhang auseinandersetzen muss. Gebraucht werde eine neue Form der antirassistischen Klassenpolitik. Zu beachten sei dabei, dass sich Formen der Unterdrückung wandelten »und immer neue Gruppen Subjekte von rassistischer Entmenschlichung« werden, so Bhattacharyya. Sie teilte also die materialistische Annahme, wonach rassistische Zuschreibungen zwar eine gewisse Autonomie besitzen, jedoch nicht losgelöst von ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang betrachtet werden können.
Racial Capitalism birgt dennoch die Gefahr, ein bloßes Schlagwort zu sein, dessen analytischer Mehrwert fraglich bleibt – zumindest, wenn man den Begriff unabhängig von historisch konkreten Analysen universalisieren will. Trotzdem hat es die Konferenz geschafft, nicht in eine reine Begriffsdebatte zu verfallen, sondern vielmehr versucht, den Zusammenhang zwischen Rassismus und Kapitalismus, auch durch empirische Analysen, präzise zu beleuchten. Kontroversen gab es dabei durchaus: Etwa zwischen denjenigen, die wie Robinson annehmen, dass Rassismus nicht Produkt von Kapitalismus ist, und denjenigen, die in der Tradition marxistischer Rassismustheorien davon ausgehen, dass Rassismus durch Sklaverei entstanden ist – und entsprechend die Folge von Produktionsverhältnissen wäre. Die Frage nach der Art des Zusammenhangs von Rassismus und Kapitalismus ist also analytisch wie praktisch durchaus relevant.
Was bedeutet Materialismus?
Vorschnell erschien daher bei der abschließenden Podiumsdiskussion der Einwand der Philosophin Vanessa Thompson, die im Bereich der Black Studies und zu Abolitionismus forscht: Man habe es hier mit einem »Henne-Ei-Problem« zu tun, das nicht im Zentrum der Debatte stehen sollte. Im Gespräch mit der Migrationsforscherin Manuela Bojadžijev und Kolja Lindner betonte sie zwar, dass Rassismus den Ausschluss und die Ungleichheit von Menschen ermöglicht, worauf der Kapitalismus wiederum angewiesen ist. Thompson wies aber darauf hin, dass ein rein materialistischer Ansatz die relative Selbständigkeit von Rassismus heute nicht komplett erklären könne und durch psychoanalytische und sozialanalytische Ansätze ergänzt werden müsste. Ähnlich argumentierte Lindner, der 2022 das Buch »Marx, Marxism and the Question of Eurocentrism« veröffentlichte. In seinem Vortrag kritisierte er Marx’ Geschichtsmodell aus postkolonialer Perspektive als deterministisch und homogenisierend.
Wenn marxistische Rassismustheorien behaupten, dass sich Rassismus in unterschiedlichen historisch-materialistischen Konjunkturen anders äußert, heißt das nicht, dass er vollkommen losgelöst ist von sozioökonomischen Gegebenheiten. Übersehen wird dabei, dass auch der Staat dafür sorgt, dass rassistische Ideologie eine materielle Form annimmt. Lindner dagegen suggerierte, dass sich Rassismus quasi zufällig artikuliert, wenn er sich denn nicht aus ökonomischen Notwendigkeiten herleiten lasse. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass Rassismus nicht nur eine bloße Funktion erfüllt – wie etwa Ausbeutung zu legitimieren oder bestimmte Gruppen aus der Ökonomie auszuschließen –, stellt sich damit erst die Frage, wie denn rassistische Ausbeutung und Unterdrückung tatsächlich verbunden sind. Was also unter Materialismus verstanden wird, darüber schien man sich nicht einig. Diese Frage zu klären ist aber zentral für einen materialistischen Rassismusbegriff.
Dass Rassifizierungen nur historisch-materialistisch denkbar sind, betonte auch Bojadžijev. Sie legte aber den Fokus auf die Analyse der kapitalistischen Gegenwart. Wenn Rassismus auch grundlegend für die sogenannte ursprüngliche Akkumulation von Kapital gewesen sei – also aufs Engste mit Produktionsverhältnissen verbunden –, müsse man das Verhältnis von rassifizierenden Differenzziehungen im Rahmen der heutigen kapitalistischen Vergesellschaftung analysieren. Eine solche Gesellschaftstheorie ist in dem Sinne materialistisch, als dass sie die gesellschaftlichen Grundlagen von Subjektivität offenlegt – und damit eine Verbindung herstellen kann zwischen Subjekt und Struktur.
Das Ganze begreifen
Bojadžijev unterstrich zudem den Punkt, dass Rassismus Ausbeutung legitimieren, ihr aber auch entgegenstehen kann: Beispielsweise, wenn Populist*innen fordern, jegliche Formen von Migration zu stoppen, während Liberale die Anwerbung ausländischer Pflegekräfte befürworten – allerdings zu Konditionen, die dazu beitragen, dass das Lohnniveau für Pflegeberufe niedrig bleibt. Durch diese ideologische Eigendynamik kann Rassismus nicht komplett rationalisiert werden. Er enthält immer auch ein irrationales und regressives Moment.
Durch rassistische Ideologie werden reale Widersprüche der Subjekte überdeckt, die sich so in die kapitalistische Gesellschaft integrieren lassen. Wenn wir also annehmen, dass Rassismus aus kapitalistischen Strukturen entsteht, die rechtliche und politische Institutionen einschließen, wie erklären wir diese Irrationalität beziehungsweise Regressivität? Es braucht also eine materialistische Rassismusanalyse im Sinne einer Gesellschaftstheorie, die eine Verbindung zwischen den kapitalistischen Strukturen und ihrem Einfluss auf die Subjektivität zieht. Damit wird eine materialistische Gesellschaftstheorie notwendig, um die Frage zu beantworten, wie das rassistische Subjekt überhaupt zu seinen Kategorien von Ausschluss kommt und wie sich diese über die Zeit ändern.
Manuela Peitz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Freien Universität Berlin und promoviert zu Hoffnung und Ideologie.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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