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Linkes Sachsen 1923: Ein Probierland

Karl Heinrich Pohl über ein linksrepublikanisches Projekt: Sachsen 1923

  • Manfred Weißbecker
  • Lesedauer: 7 Min.
Der Einmarsch der Reichswehr beendete im Herbst 1923 das linkssozialistische Projekt Arbeiterregierung in Sachsen und Thüringen.
Der Einmarsch der Reichswehr beendete im Herbst 1923 das linkssozialistische Projekt Arbeiterregierung in Sachsen und Thüringen.

Wer zunächst lediglich den Titel »Sachsen 1923« zur Kenntnis nimmt und vielleicht nicht bereit ist, es zu lesen, weil desinteressiert an Lokal- und Regionalgeschichte, unterliegt einem großen Irrtum. Nein, das Buch des Kieler Historikers Karl Heinrich Pohl lohnt intensive Lektüre. Nachdenklichkeit sieht sich gefordert und dies durchaus auch in politisch-aktueller Hinsicht. Der Autor korrigiert nachdrücklich jene großen Gesamtdarstellungen zur Geschichte der Weimarer Republik, die kaum Notiz nehmen von den Bemühungen deutscher Sozialisten um eine sozial gerechte, in jeder Hinsicht demokratische und friedensorientierte Gesellschaft. Er blickt sorgsam und eingehend auf ein in Sachsen während der frühen 1920er Jahre unternommenes »linksrepublikanisches Projekt«, das Chancen zu einer Verwirklichung in sich barg, dem jedoch Ende 1923 von seinen Gegnern in Sachsen ein einschneidendes Ende bereitet worden ist. Ihm gelingt eine eindrucksvolle, überzeugende und zugleich anregend-lehrreiche Darstellung der damals für und gegen neue Verhältnisse geführten Klassenkämpfe.

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Zudem lässt sich Pohls Buch auch anders und als Gegensatz zur Vielzahl jener Publikationen lesen, die eher den Eindruck erwecken, dass geschichtswissenschaftliches Forschen und Schreiben hauptsächlich passgerecht zu jeweiligen Jahrestagen erfolgt, zumal zu den »runden« unter ihnen. Lang geraten Listen über sogenannte Jahreszahlen-Bücher, die eher facettenreich nacherzählen, statt tiefgründig zu analysieren. Offensichtlich liegt dem ein zweckorientiertes und politisiertes Wissenschaftsverständnis zugrunde – verstehbar, wenn bedacht wird, dass der Büchermarkt wie jeder andere auch in der jetzigen Gesellschaft kapitalorientierten Interessen unterliegt. Vielfach geht es weniger um den wissenschaftlichen Neuwert, eher um Verkaufs- und Gewinninteressen, letztlich sogar um Arbeitsstellen und Karrieren.

Dies gilt nicht zuletzt für die über den Büchermarkt sich ergießenden Neuerscheinungen zum Geschehen, das jeweils 100 Jahre zurückliegt. Erinnert sei an die Fülle von Publikationen zum Kriegsausbruch 1914, zur russischen Oktoberrevolution 1917 und zur deutschen Novemberrevolution 1918, zur Entstehung der Weimarer Verfassung und zum Friedensvertrag von Versailles im Jahr 1919. Vieles erschien in durchaus notwendiger kritischer Sicht auf tatsächliche oder auch angedichtete Folgen des Versailler Vertrages. Natürlich war viel Lesenswertes dabei, doch erstaunt es schon, wie in Relation dazu weniger über andere und ebenfalls hochinteressante Themen publiziert worden ist. So hätte sicher mehr und sinnvoll zur Beendigung des Ersten Weltkrieges erscheinen können, vor allem zur damals vorhandenen Bereitschaft deutscher Militärs und Politiker, für Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen einzutreten, statt weiter auf dem sogenannten Siegfrieden zu beharren.

Wie kann erklärt werden, dass unter anderem der Kapp-Lüttwitz-Putsch vom März 1920 kaum eine Rolle spielte; die letzten größeren Darstellungen von Johannes Erger, Heinz Hürten, Erwin Könnemann und Gerhard Schulze erschienen 1967, 1989 und 2002. Demgegenüber könnten sich Leserinnen und Leser sehr lange mit Literatur über den Hitler-Ludendorff-Putsch vom November 1923 befassen. Ausführlich wurden zwar die Morde an Matthias Erzberger und Walther Rathenau behandelt, hingegen ist beispielsweise keine neue Biografie zu Joseph Wirth vorgelegt worden; die letzte, von Ulrike Hörster-Philipps verfasste, kam 1998 heraus. Auch darin spiegelt sich der vorherrschende und politisch gewollte Trend, entgegen seiner Feststellung »Der Feind steht rechts!« alle Probleme jener Zeit nur mit totalitaristischer Gleichstellung von »linken« und »rechten« Feinden der Weimarer Republik zu erklären beziehungsweise regelrecht zu verklären.

Manches davon scheint auch in anderen jüngst erschienenen Büchern zum Jahr 1923 auf. Nicht so bei Pohl. Gestützt auf zum Teil neu erschlossene Quellen, auch auf von DDR-Historikern vorgelegten Forschungsergebnissen und orientiert an bislang kaum gestellten Fragen, distanziert er sich entschieden von dominierenden Thesen – neudeutsch Narrative genannt – über die Ende 1923 durchaus gewaltsam von Militärs und Politikern erzwungene Bewahrung der Weimarer Republik vor Chaos und Kommunismus, was zugleich als siegreiche Demokratie gefeiert wird. Bei manchen Autoren erscheint 1923 sogar als ein »geglücktes Jahr in der deutschen Demokratiegeschichte«. Pohl hingegen will erklärtermaßen die gängigen Deutungen kritisch überprüfen und nicht zuletzt mit dem Blick auf das Scheitern der Weimarer Republik fragen: »War die Entwicklung in Sachsen wirklich so republikgefährdend, wie allgemein angenommen wird? Versuchte nicht vielmehr ... die demokratisch legitimierte Regierung in Sachsen, die 1923 gefährdete Republik zu stabilisieren, ja, zu retten? Wollte sie, im Gegensatz zur Reichspolitik, zu großen Teilen des Bürgertums und der Konservativen, zu Militär und Wirtschaft, nicht die soziale und demokratische Republik festigen, so wie es die Revolutionäre 1918/19 ursprünglich gewollt hatten? War ihre Absetzung daher nicht ein Glück, sondern eher ein Unglück?«

Ausführlich werden alle Faktoren analysiert, die für die sächsische Geschichte in den frühen 1920er Jahren ausschlaggebend waren: wirtschaftliche und politische Rahmenbedingungen sowie das jeweilige, aber immer aufeinander bezogene Wirken von Parteien (darunter vor allen SPD, KPD und die des »bürgerlichen Spektrums«), Gewerkschaften, Unternehmern und der Reichswehr. Eine zentrale Rolle spielt für den Autor auch das Verhältnis zwischen Sachsen und dem Reich sowie zwischen Sachsen und dem sich als »Ordnungszelle« gestaltende Bayern. Detailliert wird über die realen Gefahren »von rechts« und ebenso über die nachweislich nicht allein von der KPD organisierten »proletarischen Hundertschaften« berichtet. Hervorgehoben wird: Sachsen sei der einzige bedeutsame Flächenstaat des Reiches gewesen, in dem seit der Novemberrevolution »die Arbeiterbewegung hätte durchregieren können«.

Im Einzelnen kann nicht erwähnt und bewertet werden, was dem Leser alles zur Geschichte Sachsens und insbesondere zur Politik sozialdemokratisch geführter Landesregierungen geboten wird. Es sei nur gesagt: Das Buch wird für künftige Debatten zum Thema unentbehrlich sein, auch wenn es bislang im offiziösen Diskurs wenig Beachtung fand und dem Verfasser den Vorwurf einbrachte, seine Aussagen über die Kommunisten seien problematisch. Hier soll es vor allem um das »linksrepublikanische Projekt« gehen, um ein Reformprojekt, mit dem nachgeholt werden sollte, was in der Revolution von 1918/19 nicht durchgesetzt worden war. Seine Verfechter betrachteten es im »Probierland einer sozialistisch ausgerichteten Politik« als ein Zukunftsmodell für die Verwirklichung sozialer und demokratischer Politik. Man verstand es nicht als Alternative zur Weimarer Republik, sondern als eine politische Alternative in deren Rahmen.

Nach Pohls Urteil habe es zwar mit dem Erweitern der Rechte für Betriebsräte und Arbeitnehmervertretungen durchaus Fortschritte gegeben, es sei aber der Versuch gescheitert, eine »Wirtschaftsdemokratie« zu erreichen. Hingegen seien größere Erfolge erzielt worden im Ringen um eine Demokratisierung von Justiz (was nicht dargestellt wird) und Polizei, die allmählich zu einer republikanischen und friedlich handelnden Schutztruppe umgebaut werden sollte. Fortschritte habe es auch mit der Schaffung einer neuen Gemeindeordnung, die dem Prinzip der demokratischen Selbstverwaltung auch auf der untersten politischen Ebene entsprach, sowie mit einer veränderten Gewerbeaufsicht gegeben, die verstärkt Interessen von Arbeitern zu berücksichtigen hatte.

Ein eigenes Kapitel widmet Pohl dem Bemühen um eine Schulpolitik, die zugleich eine Bildungsrevolution hätte sein können. Er bewertet sie als eines der erfolgreichsten Projekte innerhalb der linksrepublikanischen Reformbemühungen. Es habe zudem »die Möglichkeiten einer vertrauensvollen Kooperation zwischen Sozialisten und Kommunisten« bezeugt, was wohl auch ein Grund dafür gewesen sei, dass nach 1924 die »Schulreformen alsbald zurückgedreht wurden«. Leider scheint dem Autor nicht wichtig gewesen zu sein, auch auf die auf gleicher Ebene stattfindenden Bemühungen in Thüringen zu schauen, auf Parallelen und Unterschiede, deren Analyse zu weiterführenden Schlussfolgerungen führen könnte. Daher nicht nur nebenbei: Die thüringische Rosa-Luxemburg-Stiftung gibt ein Buch von Mario Hesselbarth heraus, das sich mit der Arbeiterregierung im sächsischen Nachbarland befasst und deren Scheitern als »Abbruch der demokratischen Entwicklung in Thüringen« bezeichnet. Vorstellbar sind Veranstaltungen, in denen zum Sinn von geschichtlichen Vergleichen sowie über antifaschistische Demokratietheorie zu debattieren wäre.

Folgerichtig betrachtet Pohl das mit dem Einmarsch von 60 000 Angehörigen der Reichswehr sowie mit der Absetzung der demokratisch gewählten und von Erich Zeigner geführten Landesregierung erzwungene Ende des in Sachsen initiierten linksrepublikanischen Projektes als ein Schlüsselereignis, das in seiner Bedeutung für die kurze Geschichte der Weimarer Republik kaum überschätzt werden könne. Trotz aller Mängel, oft entstanden im Streit zwischen den Akteuren des Projektes, wäre dessen Weiterführung eine Chance für Demokratie und Weimarer Republik gewesen – doch sie wurde vertan.

Karl Heinrich Pohl: Sachsen 1923. Das linksrepublikanische Projekt – eine vertane Chance für die Weimarer Demokratie. Vandenhoeck & Ruprecht, 307 S., geb., 45 €.

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