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Colson Whitehead: Das Ganoven-Manifest
Colson Whitehead erzählt in seinem neuen Roman »Die Regeln des Spiels« von Kriminalität und politischen Kämpfen im Harlem der 1970er Jahre
Der New Yorker Schriftsteller Colson Whitehead wird wegen seiner sozialrealistischen Milieu-Romane von einigen Kritikern schon seit Jahren gerne als Charles Dickens des Schwarzen Amerika gefeiert. Sein neuer Roman »Die Regeln des Spiels«, eine Fortsetzung seines 2021 erschienenen Epos »Harlem Shuffle«, verstärkt diesen Eindruck noch einmal. In dem fast 400 Seiten dicken Roman schüttet der 1969 geborene, in Brooklyn lebende Autor ein ganzes Füllhorn kunstvoll ineinander verschachtelter Geschichten aus dem Schwarzen Manhattan Uptown in Harlem aus.
Im Zentrum des aus drei Teilen bestehenden Romans, der in den 1970er Jahren angesiedelt ist und sich fast wie eine Anthologie von Kiezgeschichten aus Nord-Manhattan liest, steht wieder Möbelhändler Raymond Carney, dessen beruflicher und gesellschaftlicher Aufstieg in den unternehmerischen Mittelstand in »Harlem Shuffle« erzählt wird. Gut zehn Jahre später verkauft Carney nur noch Möbel, seine nebenbei betriebene Hehlerei gehört der Vergangenheit an. Aber da seine halbwüchsigen Kinder unbedingt zu einem »Jackson Five«-Konzert in den Madison Square Garden gehen wollen und es unmöglich ist, Karten zu bekommen, lässt Carney seine alten Kontakte spielen und landet schließlich beim korrupten Polizeibeamten Munson, der früher bei ihm Schutzgeld kassierte und ihm jetzt für einen kleinen Gefallen Konzertkarten verspricht. Carney lässt sich darauf ein, und das Drama nimmt seinen Lauf.
In »Die Regeln des Spiels« entwirft Colson Whitehead ein düsteres, kriminelles und heruntergekommenes New York der 70er. Eine Nacht lang ist Carney mit Detective Munson unterwegs, der von einer polizeiinternen Kommission wegen Korruption vorgeladen werden soll und in seinem Zuständigkeitsbereich in Harlem noch einmal richtig absahnen will, bevor er aus New York abhaut, um sich der Strafverfolgung zu entziehen.
Das alles spielt im Jahr 1971, gerade hat sich die Black Liberation Army als militante Abspaltung der Black Panthers gegründet und zwei Polizeibeamte in New York erschossen. Der Sicherheitsapparat läuft auf Hochtouren, während Munson mit Carney, der anfangs gar nicht weiß, wie ihm geschieht, als Fahrer in einer Nacht diverse Überfälle auf Buchmacher, illegale Spielclubs und andere Etablissements aus der Unterwelt verübt. Der Möbelhändler kann sich nicht wehren und wird vom gewalttätigen und rassistischen Polizeibeamten quasi entführt und für dessen Zwecke missbraucht. Die Konstellation erinnert ein wenig an den Actionfilm »Collateral« (2005) mit Tom Cruise und Jamie Foxx, und ähnlich viele Tote gibt es dann auch in dieser Nacht.
Dabei breitet Whitehead anhand von Munsons und Carneys Tour mittels Rückblenden ein ganzes Panorama verschiedener Gangster-Biografien und -Geschichten aus. Der Originaltitel des Romans lautet »Crook-Manifesto«, was sich in etwa mit Gangster-Manifest übersetzen lässt und noch einmal den sozialpolitischen Charakter dieses Großstadtkrimi-Epos unterstreicht.
Colson Whiteheads Roman ist nicht nur eine Milieustudie der Unterwelt in Harlem, sondern erzählt von den im Deutschen titelgebenden sozialen Regeln dieses Stadtteils. Die Kriminalität ist ein sozialer und wirtschaftlicher Interaktionsmodus, der in dieser krisengeplagten Metropole, die 1975 Insolvenz anmelden muss, das Überleben jener sichert, die am unteren Ende der Hierarchien stehen. Dem Harlem, das Whitehead hier so detailliert schildert, inklusive Gerüche, Essen, Musik, Lärm, Armut, Verzweiflung, ebenso wie Kindheitserinnerungen, Liebesgeschichten und der heute wieder ungemein angesagten Hipness der 70er, liegt ein brutales, gewaltförmiges System zugrunde. Die größte Macht haben dabei die detailliert mit ihren widerwärtigen weißen Fratzen dargestellten Polizisten, die sich wie rachsüchtige Götter benehmen und sich alles erlauben, was sie nur wollen. Bis Munson eben in jener Nacht gegen die Regeln verstößt und am Ende von einem überaus schlauen Carney aufs Glatteis geführt wird.
Dieser rasant erzählten düsteren Geschichte schließen sich zwei weitere genauso umfangreiche Teile an, in denen es um den Dreh eines Blaxploitation-Films im Jahr 1973 geht und um eine Reihe von Brandstiftungen im Jahr 1976. Im Gegensatz zu »Harlem Shuffle« ist »Die Regeln des Spiels« eher wie ein umfangreicher Textkorpus, in dem sich unzählige kleine Geschichten finden. So etwa von dem pyromanischen Schwarzen Hippie namens Zippo, der aus Harlem stammt, in Los Angeles Film studiert und schließlich mit »Codename Nofretete« einen Blaxploitation-Film dreht, bis plötzlich Lucinda Cole, die mondäne Hauptdarstellerin und ehemalige Freundin einer lokalen Mafia-Größe, verschwindet. Carneys enger Kumpel Pepper macht sich auf die Suche nach ihr, klappert dabei halb Harlem ab, und wieder ergeben sich aus einer Geschichte des Viertels viele weitere.
Dabei erzählt »Die Regeln des Spiels« fast schon essayistisch vom Blaxploitation-Hype und widmet sich auch der Frage, wie die Harlemer »Ghetto-Herkunft« und das Schwarzsein kommerziell ausgeschlachtet werden. Der Möbelladen in der legendären 125. Straße in Harlem ist auch Drehort des Films.
Im letzten und abschließenden Teil, angesiedelt im Jahr 1976 auf dem Höhepunkt der ökonomischen Krise New Yorks, geht es um das heikle Thema der sogenannten heißen Sanierungen, also um Brandstiftungen und Versicherungsbetrug, womit sich auch schon Garth Risk Hallbergs monumentaler 70er-Jahre-New-York-Roman »City on Fire« (2015) beschäftigt, der kürzlich von Apple TV als Serie umgesetzt wurde. Denn nicht nur in Harlem, sondern auch in anderen sozial prekären und baulich maroden Vierteln des New Yorker Stadtgebiets wurden in den 70er Jahren viele Gebäude angezündet, um Sanierungsvorgänge zu beschleunigen und nebenher das Geld von Versicherungen und städtischen Fonds zur Stadtteilentwicklung zu kassieren.
Als es bei Carney um die Ecke brennt und der jugendliche Sohn einer Bekannten schwer verletzt wird, mischt sich der Möbelhändler zusammen mit Pepper, dem Freund der Familie, ein und recherchiert auf eigene Faust in der Nachbarschaft. Dabei treten die beiden sehr schnell diversen Leuten auf die Füße. Aber das sind nicht nur die üblichen Ganoven, sondern auch der Schwarze Bezirksbürgermeisterkandidat, mit dem Carney zusammen im Harlems Unternehmerverein sitzt und in dessen Wahlkampagne die Frau des Möbelhändlers aktiv ist.
Colson Whiteheads Harlem, das der Autor so virtuos in »Die Regeln des Spiels« literarisch inszeniert, hat die düstere Komplexität eines Gemäldes von Pieter Bruegel, in dem es über die Länge der knapp 400 Seiten immer wieder noch einmal etwas Neues und Überraschendes zu entdecken gibt. Mal geht es um die Nachtschichten, die Pepper vor Jahren als Wachmann in einem illegalen Poker-Club geschoben hat, um eine finstere Industriebrache, auf der illegale Geschäfte abgewickelt werden, dann um die Geschichte eines mit der lokalen Mafia verbandelten Schwarzen Stand-up-Comedians, um ein Konzert des legendären McCoy-Jazz-Trios, das nebenher in einem Club stattfindet, oder um das Jackson-Five-Konzert im Madison Square Garden, während in einem fort die damals so erfolgreichen Songs der Band geträllert werden.
Oder Whitehead erzählt von der Arbeit von Carneys Ehefrau in einem Reisebüro, das darauf spezialisiert ist, nichtweißen Menschen sichere Routen durch die zum Teil wegen rassistischer Gewalt gefährlichen Teile der USA zu ermöglichen. Dabei taucht Colson Whitehead tief in die soziale, kulturelle und stadtpolitische Matrix von Harlem und New York ein und erzählt für ein breites Publikum die Geschichte des Schwarzen, urbanen Amerika, ohne die allzu erwartbaren 70er-Jahre-New-York-Themen wie die aufkommende Punk-Subkultur und die Entstehung des Hip-Hop abzuhandeln.
Ob Colson Whitehead die Geschichte des Möbelhändlers Carney in einem dritten Teil weitererzählt und dabei noch mehr literarische Milieuperlen aus dem Big Apple und aus dem Harlem der 80er und 90er Jahre zutage fördert, bleibt abzuwarten. Es wäre definitiv wünschenswert.
Colson Whitehead: Die Regeln des Spiels. Hanser, 384 S., geb., 26 €.
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