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Olaf Scholz: Meinung kommt von Meinungsumfrage
Hätten Sie es geahnt? Es gibt einen Bundeskanzler!
Erstaunlich, mit welcher technokratischen und oft auch schlicht zynischen Wortwahl manche Politiker plötzlich über Zuwanderer sprechen. Da haben die Landtagswahlen in Bayern und Hessen offenbar manche Zunge gelöst. Besonders laut und besonders empathiearm äußern sich Politiker (ja, es sind meist Männer), die mit ihren Parteien noch vor kurzem selbst an der Macht waren, Menschen wie Carsten Linnemann, Friedrich Merz oder Jens Spahn.
Ich werde das noch mal überprüfen, meine aber, mich daran zu erinnern, dass alle drei das gleiche Parteibuch wie Angela Merkel haben. Sie hat als Bundeskanzlerin das begründet, was man nun plötzlich als »ungezügelte« oder gar »illegale Migration« bezeichnet. Ist die jetzt erst seit dem Regierungswechsel »illegal«, oder warum haben die Herren von 2015 bis 2021 mit ihrer Meinung hinterm Berg gehalten? Arbeitsthese: Weil sie Politiker sind und deshalb darauf konditioniert, dass »Meinung« von Meinungsumfrage kommt.
Tief verinnerlicht haben das auch die Sozialdemokraten, denen man schon den »Asylkompromiss« von 1992 verdankt, der damals in einem ähnlichen gesellschaftlichen Klima wie heute verabschiedet wurde. Plötzlich durfte nur noch Asyl beantragen, wer nicht über einen »sicheren Drittstaat« eingereist war. Der politisch Verfolgte musste also mit einem Direktflug in Frankfurt gelandet sein, was viele Staaten, die es mit den Menschenrechten nicht so haben, erstaunlicherweise schon am eigenen Flughafen unterbanden. Versuchte ein Mensch auf dem Landweg, beispielsweise über Polen oder über Italien und Österreich, einzureisen, konnte er ein Messer im Rücken haben, als politisch verfolgt galt er nicht mehr. Seit 2015 fand die SPD genau wie Merkel offenbar, dass jeder einreisen soll, der es an die Landesgrenzen geschafft hat.
Nun markiert ein Interview, das Olaf Scholz im »Spiegel« gab, die nächste 180-Grad-Wende. »Wir müssen endlich im großen Stil abschieben«, lautete der Titel mit einem entschlossen dreinblickenden Kanzler. Und dass dieser Satz aus dem Zusammenhang gerissen sei, wie mancher Sozi souffliert, stimmt nicht im Geringsten. Der Kontext passt zum Satz. Alles andere wäre auch merkwürdig, denn solche Interviews werden nie geführt, ohne dass zuvor ein mehrköpfiger Beraterstab konsultiert worden wäre, in diesem Falle sicher auch die für Migrationsfragen relevanten Ministerinnen und Minister.
Nun ist Scholz nicht eben ein Newcomer in der SPD, der Partei, die von 1997 bis heute 20 Jahre Teil der Bundesregierung war. Scholz selbst hat seit 2001 führende Parteiämter inne. Er gehörte dem ersten Kabinett Merkel von 2007 bis 2009 und dem vierten von 2018 bis 2021 an. Seither ist er Bundeskanzler. Und wer bei ihm Führung bestellt, bekommt zwar meist Schweigen oder Worthülsen, aber so ganz ohne Einfluss dürfte er in dieser Regierung hinter den Kulissen dann doch nicht sein. An wen genau geht also sein immanenter Vorwurf, dass bisher nicht konsequent abgeschoben wurde?
Dass Scholz am Abend vor dem Interview im Hotelzimmer stand und sich die Neunschwänzige als Selbstkasteiung gab, ob der von ihm mitverantworteten Asylpolitik, ist unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist ein erneuter Gedächtnisverlust. Man kann auch mal vergessen, was man beruflich so gemacht hat in den letzten 25 Jahren. War schließlich schon bei den Cum-Ex-Geschäften und der Warburg-Bank so. In Europa hat es diese Bundesregierung übrigens in den zwei Jahren ihres Bestehens geschafft, sich weitgehend zu isolieren. Sie trifft keine Entscheidungen, und wenn doch, dann oft einsame. Gerade hat die Scholz-Regierung beschlossen, fünf Goethe-Institute in Frankreich und Italien zu schließen. Man darf davon ausgehen, dass Scholz in zwei Jahren ein Interview gibt, in dem er fordert, die Alleingänge in Europa zu beenden.
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