- Kultur
- Spaß und Verantwortung
Räume einnehmen
Eine Theorie der Besetzung: Von Mozarella-Kugeln, Teppichmustern, blauen Flecken und Heterotopien
Vorletzte Woche war ich das allererste Mal bei der Frankfurter Buchmesse. Weil ich seit ein paar Jahren ständig pleite bin, habe ich einen scharfen Blick dafür entwickelt, wo es etwas umsonst gibt. Gleich bei meiner Ankunft wurde ich am Stand, den sich März- und Korbinian-Verlag teilten, fröhlich begrüßt: Die gelbe Farbe der März-Cover passten genau zum Orangensaft und zu den Croissants, die dort verteilt wurden. Die Sekt-seligen Augen der Menschen, die schon länger an meinem »Hauptquartier« herumstanden, waren sanft und zugewandt, der »Saftempfang« hatte bereits um neun begonnen und war in Wirklichkeit, zum Glück, ein Sektempfang. Ich ergatterte das letzte Laugencroissant und machte mich auf den Weg zum »besten Kaffee der Messe«, immer den Roten Teppich lang, Richtung »Österreich« (ganz in Türkis) oder »Bayern« (ganz in Pink). Dort gab es tatsächlich cremige Cappuccini ohne Ende, sogar mit Hafermilch. Am Bayern-Stand konnte man sich Schokolade oder mit Lakritz überzogene Salzbrezeln dazunehmen. Die Frage, warum Bundesländer überhaupt einen Stand auf der Messe haben, blieb leider unbeantwortet.
Was Snacks betrifft, hatte die Messe aber noch wesentlich mehr zu bieten. Das war buchstäblich lebensrettend, denn ich hatte weder Essen dabei noch Bargeld. Das Wifi, über das die Kartengeräte liefen, war im ganzen Gebäude ausgefallen. Auf der Suche nach Nahrung scannte ich also die Tische auf jedem Stand und fand mal Weintrauben, mal Granny-Smith-Äpfel, thematische Backwaren, wie Apfelkuchen oder Kringelgebäck, einzeln verpackten türkischen Honig oder, mein Highlight, Mochis, japanische Reisküchlein. Letztere waren irgendwo in der Reihe H zu finden, unweit des Standes von Spector Books, und natürlich ging ich mehrmals mehr oder weniger »unauffällig« an dem Stand vorbei, um sowohl das Sesam- als auch das Rote-Bohnen- als auch das Erdnuss-Mochi zu probieren.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist, und versucht es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen.
Um 17 Uhr wurde es dann richtig interessant, denn die Empfänge begannen. Der Aufbau-Verlag packte heiße Pommes aus, am Stand des Verbrecher-Verlages bildete sich eine trinkselige und diskursintensive Traube. Ich entfernte mich allerdings bald unauffällig, denn ich hatte herausgefunden, dass an der »Lese-Insel« die (in der Stückzahl begrenzten) Antipasti aufgetischt wurden. Und tatsächlich kam ich pünktlich zu Käsewürfeln, winzigem Moussaka, gebratenem Gemüse mit Mozzarella-Kügelchen und Radicchio mit Pesto. Ich schlug mir den Bauch voll und nahm die Rolltreppe an der Außenfassade, die mich bereits den ganzen Tag fasziniert hatte. Bei einer weiteren Lesung in der Stadt ließ ich Unmengen an Kaubonbons, Werthers Original, Mini-Bounty und Leckmuscheln mitgehen. Ich werde nie die Erzählung einer Freundin vergessen, die sich als Kind auf einem kleinen Puky-Fahrrad von der Schule nach Hause fahrend, den viel zu großen Scout-Ranzen auf ihrem kleinen Rücken, fast tödlich an einer Leckmuschel verschluckt hatte – sie blieb einfach in ihrem Hals stecken. Als ich am nächsten Morgen meine Handtasche auskippte, kam ich mir vor wie ein Kind nach Halloween. Nur war die Beute dieses Mal irgendwie besser als damals: keine geschmolzenen und wieder hart gewordenen Merci-Riegel.
Mein Highlight des Tages war dann, klassischerweise, der Ausgang. Man hatte gemunkelt, dass man sich im Hotel Frankfurter Hof an der Bar traf. Als wir dort ankamen, stellte sich heraus, dass sich das »Gerücht« herumgesprochen hatte. Die Türen wurden uns noch, classy, von einem Doorman geöffnet, dann aber begann die Anarchie: Knapp achthundert Menschen drängten sich in die Lobby des Hotels, nur wenige bestellten den Espresso Martini für 20 Euro, die meisten hatten sich ihre eigenen Getränke mitgebracht. Menschen saßen auf den bunt gestalteten Teppichböden. Irgendwer, der nicht dafür engagiert worden war, spielte den »Flohwalzer am Klavier«. Andere sangen kakofonisch dazu »Let it be«. Der Hund eines Gastes kackte auf den Fußboden, vor die Werbeanzeige für über 1500 Euro teure »Pro Aging Cremes«-Kosmetik – denn heutzutage sagt man nicht mehr »Anti Aging«, lernte ich. Ich spazierte nach Hause, legte mich aber im Regen auf die Fresse. »Immerhin vor dem ›Frankfurter Hof‹«, sagte ein Freund, als er meinen blauen, angeschwollenen Fuß am nächsten Tag sah. In meinem Kopf hallte noch die Liedzeile »There will be an answer – let it be« nach.
Diese nicht geplante, aber umso freudvollere Hotel-Besetzung erinnerte mich an eine Szene vor ein paar Jahren: Ich verbrachte die Nacht auf der Fähre von Venedig zu einem Hafenort in Griechenland, es war der anarchistischste Ort, an dem ich je war. Dreimal am Tag rief ein Gong zum Essen, meistens überbackene Reisnudeln und irgendwas mit Hackfleisch. Nachts bauten Familien ihre Zelte auf dem Hubschrauberdeck oder im Restaurant auf. Nur die Trucker schliefen in ihren Trucks. Ich lernte: Truckergesichter altern durch die ungleiche Sonneneinstrahlung einseitig. Die ganze Nacht saß ich an der Bar und betrachtete die Muster der 60er-Jahre-Teppichböden, auf denen sich schlafende Menschenkörper umeinander arrangiert haben. Irgendwann ging ich nach oben aufs Deck: Ein kleines, etwas pummeliges Mädchen tanzte virtuos den »Schwanensee« nach. Foucaults Beschreibung von Schiffen als Schwellenorten als Heterotopien verstand ich erst in dieser Nacht. »Squatting« ist ein besonders schöner Begriff, denn er meint auch »Knien«. Immer wieder sind es die Teppichböden, die der Fähre und die im Frankfurter Hof, an die ich denke, wenn ich mich jetzt an diese Szenen erinnere. »Besetzung« allerdings ist auch schön – denn es erinnert auch an ein Wort, das »anders besetzt« wird. So wie in meinem Fall seit ein paar Jahren die Worte »Spaß« und »Verantwortung«.
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