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Essstörungen: So viel Heimlichkeit
Was Frauen helfen könnte: Statt Diätzwang eigenen Ernährungsbedürfnissen vertrauen lernen
In westlichen Staaten wie etwa Deutschland, Österreich und der Schweiz gehören Essstörungen zu den häufigsten psychosomatischen Erkrankungen. Bei rund 20 Prozent der deutschen Jugendlichen wurden in der Kinder- und Jugend-Studie des Robert-Koch-Instituts zwischen 2014 und 2017 Anzeichen gestörten Essverhaltens festgestellt. Bei circa zwei bis fünf Prozent von ihnen manifestieren sich diese Störungen in lebensbedrohlichen Zuständen. Während der Corona-Pandemie stieg die Zahl von Essstörungen, welche klinisch behandelt wurden, nach Angaben verschiedener Krankenkassen wie der DAK und der KKH um sieben bis 13 Prozent. Am häufigsten sind Mädchen betroffen, aber auch bei Frauen im mittleren Lebensalter treten Essstörungen mit einem Anteil von circa einem Prozent auf.
Während in der Pubertät Mädchen oder sich queer orientierende Jugendliche vorrangig an Magersucht oder Bulimie erkranken, tritt bei Frauen nach Geburt der Kinder oder zu Beginn der Wechseljahre meist das anfallsartige Überessen (ohne Erbrechen), die sogenannte Binge-Eating-Störung, auf.
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Der Beginn einer Essstörung kann durch unüberlegte Kommentare zum Aussehen wie sich entwickelnder »strammer Waden« oder eines sich abzeichnenden Bauches getriggert werden. »Es ist wissenschaftlich belegt, dass das Schlankheitsideal oder Kommentare bezüglich des Körpers innerhalb des sozialen Umfelds die Entwicklung eines ungesunden Essverhaltens begünstigen. Dann beginnen betroffene Personen aus Scham heimlich oder ohne Gesellschaft zu essen«, erläutert die Psychologin Cornelia Fiechtl, die zum Thema Heißhunger und Essdrang das Buch »Foodfeeling« geschrieben hat.
Zum Beispiel brachte der abfällige Kommentar eines Bekannten, ob »schon das nächste Kind unterwegs« sei, die fünfunddreißigjährige Marie G. aus Chemnitz dazu, eine Diät zum Abnehmen anzufangen, obwohl sie ihr Baby noch stillte. Das Kind war inzwischen zehn Monate alt und ihr in der Schwangerschaft gewölbter Bauch hatte sich noch nicht zurückgebildet. Über mehrere Jahre versuchte die Frau, ihre schlanke Taille zurückzubekommen. Doch immer öfter schien sie an ihrer eigenen Diätstrategie zu scheitern. Statt weniger Kilogramm zeigte die Waage immer mehr an. Ab dem 40. Lebensjahr wurden zudem ihre Beine extrem dick, wie sie an sich selbst beobachtete. Tagsüber erlaubte sie sich, nur wenig zu essen, und wenn sie aß, durften es nur Obst, Gemüse, fettarmer Joghurt oder Salat mit magerer Hähnchenbrust sein. Doch am Abend, wenn ihr Kind endlich schlief, konnte sie sich nicht mehr zurückhalten. Beinahe wahllos verschlang sie heimlich Salami- und Käsebrote, süße Haferkekse, gesalzene Erdnüsse oder Nussnougatcreme, bis sie mit einem unangenehmen Völlegefühl und erschöpft ins Bett fiel. Ohne es zu ahnen, litt sie an der in Fachkreisen so benannten Binge-Eating-Störung. Die wiederkehrenden abendlichen Ess-Anfälle empfand sie lediglich als persönliches Versagen ihrer Abnehmbemühungen, ohne zu begreifen, was ihr Körper signalisierte.
Das Buch »Foodfeeling« mit dem Untertitel »Wie Emotionen bestimmen, was wir essen« gewährt die Einsicht: Es trifft oftmals Frauen mit voller Agenda, die nur wenig Freizeit für persönliche Interessen haben und sich durch Beruf und Familie gestresst wie überlastet fühlen. In Konfliktsituationen oder bei Anspannungen beginnen sie versteckt und heimlich, sich mit Schokolade oder ähnlichen Trostspendern vollzustopfen.
»Stress und in Folge dabei ausgeschüttete Hormone haben einen großen Einfluss auf das Essverhalten und das Körpergewicht«, berichtet Cornelia Fiechtl aus ihrer psychotherapeutischen Praxis in Wien.
Bei erhöhtem Stresspegel wird im Körper mehr Cortisol und Adrenalin ausgeschüttet. Ein länger anhaltender Cortisolspiegel wiederum beeinträchtigt die Wirkung des zuckersenkenden Hormons Insulin. In deren Folge schüttet der Körper mehr Insulin aus, damit der Zucker aus dem Blut in die Körperzellen gelangt. Gleichzeitig kann ein erhöhter Insulinspiegel später zu Unterzuckerung und Heißhunger, aber auch zur Fettspeicherung im Körper führen.
Bei der Binge-Eating-Disorder gehört die Gewohnheit »aus Scham wegen der großen Essensmenge allein oder heimlich zu essen« zum Diagnosekriterium. Oftmals leiden Menschen dann auch an Übergewicht.
Aber nicht jede Übergewichtige hat im Umkehrschluss eine Essstörung und nicht jede Dicke isst tatsächlich zu viel oder bewegt sich zu wenig. Nicht selten erkranken Frauen nach der Geburt ihrer Kinder an einer Schilddrüsenentzündung, die in eine Unterfunktion mündet. Zudem nehmen sehr viele Frauen im Laufe der Hormonveränderungen ab dem 40. Lebensjahr rund zehn Kilogramm an Gewicht zu. Auch ist zu berücksichtigen, dass Frauen um die Vierzig ihr Maximum der Knochendichte erreichen.
Die Schweizer Ärztin Katja Meier-Müller von der Privatklinik Aadorf spricht sich dafür aus, dass ein Body-Mass-Index (BMI) von 22 bis 29 für gestandene, ältere Frauen zu akzeptieren sei, ein BMI von 19 bis 24 hingegen eher nur für junge Mädchen. »Frauen haben ganz andere Ernährungsbedürfnisse«, betonen Petra Schleifer und Antonie Post, Autorinnen des Buchs »Gesundheit kennt kein Gewicht«. Die Grundbedürfnisse wechseln auch im Laufe des Monats entsprechend der Phase ihres Zyklus, in der sich Frauen gerade befinden. Aber nur während der Schwangerschaft wird es einer Frau zugestanden, wechselnden Appetit zu haben, kritisieren Petra Schleifer und Antonie Post.
Die beiden führen wissenschaftliche Studien ins Feld wie die Minnesota-Hunger-Studie, die noch mehrere Monate nach einer künstlich erzeugten Hungerperiode einen erniedrigten Energieumsatz, Wassereinlagerungen am ganzen Körper und noch Jahre nach Studienende ein Überschießen des Körperfettanteils nachwies. Ihr Fazit lautet »Diäten schaden der Gesundheit (…) und eine von vier Diätkarrieren endet in einer Essstörung.«
Schleifer und Post beschreiben, wie wichtig es für Menschen mit einem angespannten Verhältnis zum Essen ist, wieder Vertrauen zu ihrem Körper zu fassen. Dazu geben sie den Hinweis, die Fähigkeit zu üben, »Signale aus dem Inneren des Körpers wahrzunehmen«. Das Zauberwort heißt »achtsames und intuitives Essen«, wie es auch Cornelia Fiechtl empfiehlt. Regelmäßige Mahlzeiten beugen Heißhungerattacken vor. Spaß und Freude an der Bewegung dienen der Selbstfürsorge, Wandern, Tanzen oder Dehnungsübungen wie beim Yoga bauen Stresshormone ab.
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