Kafka kolonial?

Kolonialismus und Anthropologie in Franz Kafkas literarischen Figuren

  • Alieren Renkliöz
  • Lesedauer: 7 Min.
In Kafkas »Die Verwandlung« wird Gregor Samsa zum Käfer. Das Bild des Menschen als Ungeziefer hatte zur Jahrhundertwende eine ganz konkrete und wenig symbolische Bedeutung.
In Kafkas »Die Verwandlung« wird Gregor Samsa zum Käfer. Das Bild des Menschen als Ungeziefer hatte zur Jahrhundertwende eine ganz konkrete und wenig symbolische Bedeutung.

»Man verstand zwar also seine Worte nicht mehr. Aber immerhin glaubte man nun schon daran, dass es mit ihm nicht ganz in Ordnung war, und war bereit ihm zu helfen. Er fühlte sich wieder einbezogen in den menschlichen Kreis«, schreibt Franz Kafka 1912 über Gregor Samsa, den zum Käfer gewordenen Menschen aus seiner Erzählung »Die Verwandlung«. Die Familie sorgt sich um Gregor, der sich in seiner Kammer eingeschlossen hat. Sie wissen nicht: Gregor ist über Nacht aus der eigenen Spezies gefallen.

Kafka schreibt zu einer Zeit, in der das Menschenbild Europas infolge der Evolutionstheorie verunsichert ist. Die Anthropologie will Antworten darauf geben, was der Mensch ist, und unterscheidet zwischen Zivilisation und Wildnis. Von Anfang an finden ihre Diskurse im Kontext des Kolonialismus statt. Die Grenzsetzung zwischen Mensch und Tier ist selbst Ausdruck kolonialer Machtverhältnisse. Lange Zeit habe sich die Rezeption von Kafkas Tierfiguren und den zahlreichen Mischwesen in seinen Erzählungen ausschließlich auf eine symbolische oder allegorische Deutung beschränkt, schreibt die Kafka-Forscherin Marita Meyer. Das verändere sich. Denn dass Kafka solche Mischwesen erdichtet, liege auch an jenem historischen Kontext. Was erzählt Kafkas Auseinandersetzung mit Mensch und Tier über den kolonialen Rassismus?

An den Schrauben der Evolution

Kafkas Werk kennt viele Grenzüberschreitungen zwischen den Arten. Menschen werden Tiere, Tiere menschlich und auch zwischen den Tierarten wird gewandert. Die Erzählung »Eine Kreuzung« porträtiert ein Mischwesen zwischen Lamm und Katze. Jagdlustig und ängstlich zugleich ist die Lammkatze ein Tier, für das starre Grenzen zwischen den Arten nicht gelten. Früher sei es mehr Lamm als Katze gewesen, in der Erzählgegenwart übernehme es sogar Wesenszüge eines Hundes – eine Evolutionsgeschichte im Kleinen.

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

»Kafka dreht an den Schrauben des Evolutionsmodells«, erklärt Werner Michler, Literaturwissenschaftler in Salzburg, der unter anderem zum Darwinismus arbeitet. Kafka treffe mit seinen wandelnden Artzugehörigkeiten das Konzept der Evolution weit besser als die philosophischen Essenzialisten und ihre Auffassung von festen Wesenheiten: »Der ganze Begriff der Evolution übersteigt jede Artzugehörigkeit.« Die Sozialdarwinisten und ihr Degenerationsdiskurs hätten die Evolutionstheorie von vornherein falsch verstanden oder missbräuchlich eingesetzt, so Michler. Kafka, der als Jude mit dem zeitgenössischen Antisemitismus konfrontiert war, nehme die Perspektive der Verfolgten ein. Michler beschreibt Kafka als einen, der selbst auf der Flucht ist: »Er denkt immer von unten her. Vom Ungeziefer über den Hund bis zum Affen. Kafka sympathisiert mit den Unteren.«

Wenn Kafka Tiere mit menschlichen Qualitäten schreibt, liegt das an seiner Epoche. Fähigkeiten, die zuvor nur dem Menschen reserviert schienen, erwartet man zur Jahrhundertwende auch bei Tieren. Im Fragment »Ein junger ehrgeiziger Student« bezieht sich Kafka auf den klugen Hans, ein Pferd, das vor dem Ersten Weltkrieg viel Aufmerksamkeit auf sich zog: Der Schulmeister Wilhelm von Osten soll ihm rechnen und zählen beigebracht haben. 1904 entsandte die Preußische Akademie der Wissenschaften sogar eine 13-köpfige Kommission, um zu überprüfen, ob das Pferd wirklich rechnen könne. Infolge der breiten Rezeption der Evolutionstheorie waren viele Menschen verunsichert, wo die Grenze zwischen Menschen und Tieren zu setzen wäre.

»Die meisten reagieren auf diese Verunsicherung mit Abwehr und Rassismus, Kafka nicht«, sagt Cornelia Ortlieb, Literaturwissenschaftlerin an der Freien Universität Berlin. In Kafkas Werk gebe es die Frage nach dem radikalen Unterschied nicht, der Prager Staatsbeamte denke Kontinuen: »Bei Kafka verläuft die Grenze nicht zwischen Menschen und Tieren. Stattdessen gibt es menschliche und nicht-menschliche Tiere«, erklärt Ortlieb. Figuren wie Gregor Samsa blieben Mischwesen, die keiner Art zuzuordnen seien.

Der wilde Andere

Wie die Menschen Europas über Tiere und Menschen dachten, war verflochten mit ihrer Beziehung zu den Menschen in den Kolonien. In Kafkas Werk wird das zum Beispiel an der Betrachtung »Wunsch, Indianer zu werden« deutlich. Darin reitet ein Indigener durch die Landschaft und während des Reitens verschmelzen Tier und Mensch. Das Gefühl der Einheit mit dem Reittier schreibt Kafka aber keiner Europäerin zu, sondern: »Wenn man doch Indianer wäre…«. Die Verschmelzung ist dem Indigenen vorbehalten, den Kafka jenseits der Zivilisation in der Wildnis lokalisiert. Der kulturelle Untertitel dieses Textes: Der unzivilisierte »Indianer« ist dem Tier näher als der Europäer.

Kafka bleibt aber nicht dabei, koloniale Hierarchien zu reproduzieren. Die deutsche Kafka-Gesellschaft hebt die »vielfachen Vernetzungen« von Kafkas Schreiben mit dem »zeitgenössischen Wissen aus Evolutionstheorie, Biologie und Zoologie« hervor. Texte wie »Die Strafkolonie« thematisieren menschenverachtende Zustände: Ein Offizier stellt einem Forschungsreisenden begeistert einen gläsernen Folterapparat vor, der mit langsamen Nadelstichen einen qualvollen Tod verursacht. Die Durchsichtigkeit des Apparates ermöglicht dem Folterer, seine Tat detailliert zu beobachten.

Auch Kafkas Erzählung »Ein Bericht für eine Akademie« sei »eine Geschichte über den Kolonialismus«, so Ortlieb. Gut gekleidet und mit bedachten Worten berichtet der Varieté-Künstler und ehemalige Affe Rotpeter vor dem Publikum einer Akademie von seiner Menschwerdung. Er lebte an der Goldküste, als ein Jagdtrupp der Firma Hagenbeck ihn gefangen nahm. An Deck eines Kolonialschiffes wird der Affe Rotpeter qua Sozialisation zum Menschen und schlüpft in Kafkas Geschichte in die Rolle eines Ethnologen Europas.

Menschenzoo in Hamburg

Carl Hagenbeck, in dessen Auftrag Rotpeter gefangen wurde, gab es wirklich. Er war Tierhändler, kolonialer Akteur und stellte in seinem Zoo, dem heutigen Tierpark Hagenbeck in Hamburg, Menschen wie Tiere aus. Diese koloniale Praxis leistete rassistischen Menschenbildern Vorschub. Kafka kannte Hagenbecks Biografie. Die Wissenschaft nimmt an, dass auch Kafka diese sogenannten Völkerschauen besuchte. Der Tierpark Hagenbeck denkt dennoch bis heute nicht über eine Namensänderung nach und auf dem Gelände finden sich keinerlei Hinweise auf die kolonialen Gräuel. Die Nachfahren von Carl Hagenbeck verweigern Gespräche.

Zur Jahrhundertwende diskutierten europäische Anthropologen darüber, ob schwarze Menschen noch Tiere und manche Affenarten schon Menschen sein könnten. Die anthropologischen Grenzlinien, die weiße Menschen dabei gezogen haben, hatten für die Menschen in Afrika katastrophale Folgen: Deutschland begeht zwischen 1904 und 1908 – da ist Kafka mitten in seinen Zwanzigern – mit Anthropologie als Legitimation einen Völkermord an den Nama und Herero. Diese stufen deutsche Anthropologen nicht als gleichrangige Menschen ein. Schadensersatzzahlungen bleiben bis heute aus und Erinnerung oder Aufklärung findet kaum statt. An deutschen Universitäten werden heute noch Schädel ermordeter Nama und Herero aufbewahrt.

Dekonstruktion des Menschen

Kafka bearbeitet literarisch die Fragen der Anthropologie: Wo hört das Tier auf? Wo fängt der Mensch an? Anders als die deutschen Anthropologen, die mit ihrer Präsenz in deutsch-südwestafrikanischen Konzentrationslagern, ihrer Rassenlehre und ihren Schädelvermessungen schon 1904 geradewegs auf den Nationalsozialismus zusteuern, versucht Kafka erst gar nicht, eine Trennlinie zu ziehen.

Kafkas Affe Rotpeter lernt zu den Klängen eines Grammophons Wein trinken, Spucken und den Handschlag geben. Dass er sich Praktiken des Menschlichen aneignet, ebnet ihm den Weg zum Grenzübertritt in eine andere Art. Auch als Mensch, der vor einer Akademie berichtet, hat Rotpeter noch den Körper eines Affen. Was Kafka in »Ein Bericht für eine Akademie« vorführt ist ein »Doing Humanity«, im Sinne des »Doing Genders« der Geschlechterforschung: Menschsein ist performative Leistung, Distinktion, nicht nur innerhalb der Spezies, sondern auch gegenüber den anderen Tieren.

Dass Kafka in einer Epoche, in der weiße Anthropologen Nama und Herero auf die Stufe von Affen setzten, die Figur eines Affen entwirft, der seine Menschwerdung schildert, persifliert den Rassismus der Akademiker. Bei Kafka kann ein Affe zum Menschen werden, andersherum können Erniedrigung und Ausgrenzung im Menschen das Menschliche vernichten. Gregor Samsa ist sein berühmtestes Beispiel: Die eigene Familie lässt den Ausgegrenzten hinter seiner Zimmertür sterben. Obwohl Kafka problematische Texte hat, antwortet er kritisch auf den rassistischen Diskurs seiner Zeit. Kafkas Schreiben weiß: Menschen können andere aus dem menschlichen Kreis ausstoßen. Und das hat vernichtende Folgen.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.