Hitlerputsch 1923: Nebelkerzen und Legenden

Der Hitlerputsch war keineswegs nur Hitlers Putsch. Vor 100 Jahren vereinten sich Demokratie- und Republikgegner diverser konservativer Couleur

  • Manfred Weißbecker
  • Lesedauer: 9 Min.
Hitler, wie er sich schon früh gerne darstellte, spricht zu Anhängern von einem Hügel aus, 15. April 1923
Hitler, wie er sich schon früh gerne darstellte, spricht zu Anhängern von einem Hügel aus, 15. April 1923

In den Abendstunden des 8. November 1923 stürmten Nazitrupps in den Münchener Bürgerbräukeller, mitten in eine Veranstaltung, die der bayerische Generalstaatskommissar Gustav Ritter von Kahr zum Jahrestag der Novemberrevolution nutzen wollte, um eine programmatische Rede gegen die Weimarer Republik und deren demokratische Verfassung zu halten. Hitler suchte eine Verständigung mit dem anwesenden Machtzentrum Bayerns, das hauptsächlich aus dem von der Bayerischen Volkspartei in sein diktatorisches Amt gehobenen Kahr, dem Chef der Reichswehr in Bayern Otto von Lossow und dem Polizeichef Johann Ritter von Seißer bestand. Verkündete wurde der Beginn einer »nationalen Revolution« und die Bildung einer neuen Reichsregierung. Dieser würden außer ihm, Hitler, als Kanzler auch Weltkriegsgeneral Erich Ludendorff und die Männer jenes Triumvirats angehören. Die Revolutionäre von 1918/19 – wüst als »Novemberverbrecher« beschimpft – sollten vor ein Gericht gestellt und hingerichtet werden.

Es zeichnete sich allerdings rasch das Scheitern des Putsches ab. Einigen derer, die eine gewaltsame Aktion vorbereitet hatten und mit den an den Grenzen Thüringens und Sachsens stationierten Verbänden nach Berlin marschieren wollten, erschien der Termin ungünstig gewählt. Doch Hitler glaubte dessen ungeachtet, den Putsch fortsetzen zu können und befahl seine Anhänger für die späten Vormittagsstunden des 9. November zu einem »Erkundungs- und Demonstrationsmarsch« durch die Münchener Innenstadt. Als dieser das Regierungsviertel erreichte, fiel ein Schuss, dem für etwa eine Minute ein heftiger Feuerwechsel folgte. Bei der Feldherrnhalle – einem zum Ruhm Wittelsbacher Heerführer erbauten klassizistischen Gebäude – stoppten wenige Salven der aufmarschierten Landespolizei den Aufmarsch. Drei Polizisten und 16 Mitglieder der NSDAP lagen tot oder sterbend auf der Straße. Hitler floh, andere ließen sich an Ort und Stelle verhaften.

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Für das Scheitern des Putsches sorgten also jene bayerischen Reaktionäre, die über mehrere Monate hinweg einen gewaltsamen Schlag gegen Reichsregierung und Weimarer Verfassung vorbereitet hatten, Hand in Hand mit der NSDAP. Allein Lossow hatte sich mehrmals mit Hitler getroffen und nachdrücklich versichert, er sei mit dessen Auffassungen »in neun von zehn Punkten völlig einig«. Er gab für die gemeinsam vorbereitete Aktion die Parole »Sonnenaufgang« aus. Dann aber entflammte zwischen den rechtskonservativen weiß-blauen und dem »nationalsozialistischen« Flügel der Putschistenfronde offene Rivalität, als sich im Reich Veränderungen der Machtverhältnisse abzeichneten.

Der Reichstag hatte am 13. Oktober 1923 ein Ermächtigungsgesetz beschlossen und zugleich gab es in Berlin konkrete, sich vor allem auf die Reichswehr stützende Diktaturpläne. Mit der Übergabe der gesamten vollziehenden Gewalt an Reichswehrchef General Hans von Seeckt schien sich für den Kreis um Kahr die Aufgabe erübrigt zu haben, mit dem »Saustall in Berlin« aufzuräumen. Man begrüßte den Einmarsch der Reichswehr in Sachsen und Thüringen, wo die legalen, von Sozialdemokraten und Kommunisten gebildeten Landesregierungen verfassungswidrig zum Rücktritt gezwungen wurden und ebenso das Scheitern des Hamburger Aufstandsversuches der KPD (s. »nd« vom 14./15.10. und 21./22.10.). Ein Teil der bayerischen Rechten begriff, dass unter Deutschlands ökonomisch Mächtigen und politisch Herrschenden sich jene Richtung durchgesetzt hatte, die eine parlamentarische Staatsform für unentbehrlich und vorläufig lediglich graduelle Veränderungen am politischen Herrschaftssystem für erreichbar hielten. So sah sich die bisherige Losung »Auf nach Berlin« ersetzt durch »Im Bunde mit Berlin«. Man orientierte sich an den Plänen Seeckts zur Schaffung eines über Parlament und Regierung stehenden »Direktoriums«.

Zum »Marsch auf Berlin« gerüstet, 9. November 1923
Zum »Marsch auf Berlin« gerüstet, 9. November 1923

Kaum war der Putsch gescheitert, legten sich zunehmend Schleierwolken über das Geschehen. Zutreffend verhöhnte der Schriftsteller Lion Feuchtwanger das Stimmungsbild der Münchner: »Die Isar fließt grün und rasch wie immer, [...] die Stadt will das letzte Jahrzehnt einfach nicht wahrhaben, sie hat es vergessen, sie gibt sich treuherzig, hält sich die Augen zu und will es nicht gewesen sein. Sie glaubt, dann vergessen es auch die anderen.« Doch mit solchem Vergessenwollen verknüpften sich zugleich und zunehmend intensive Bemühungen um täuschende Schuldzuweisungen.

Unverantwortlich handelnde Politiker, Juristen, Beamte und oftmals auch Historiker entzündeten jede Menge an Nebelkerzen. Die erste Variante der später in der BRD gern gepflegten Behauptung kam zum Vorschein: »Der Hitler war’s«, selbstverständlich kein anderer. Im Begriff »Hitlerputsch« entstand die Legende vom Alleintäter. Mit ihr wurde versucht, den auch für die konservativ-nationalistischen Kräfte entstandenen Schaden zu begrenzen. Ein unvermeidbarer Gerichtsprozess gegen Hitler & Co sollte dem dienen und helfen, vieles zu verdecken: dass monarchistisch-partikularistische Kräfte den Freistaat in den frühen 1920er Jahren zu einer antidemokratischen und republikfeindlichen »Ordnungszelle« gestaltet hatten; dass von Bayern aus gegen das angeblich von einer »halb bolschewistischen« und einer »verschleierten Sowjetregierung« beherrschte Deutschland mit Gewalt vorgegangen werden sollte; dass Bayern zu einer Brutstätte wirkungsmächtig werdender völkisch-faschistischer Organisationen geworden war.

Der am 26. Februar 1924 eröffnete Prozess gegen Hitler und weitere neun Angeklagte – darunter Erich Ludendorff, Wilhelm Frick, Hermann Kriebel und Ernst Röhm, erwies sich als regelrechtes Schmierentheater und ging als einer der schlimmsten und folgenreichsten Justizskandale in die Geschichte ein. Er fand nicht vor dem Staatsgerichtshof zum Schutz der Republik beim Reichsgericht in Leipzig statt, wo er hingehört hätte, sondern lediglich vor dem Volksgericht für den Landgerichtsbezirk München I. Bayern hatte sich erfolgreich den ohnehin zögerlichen Handelnden des Reiches widersetzt, u.a. mit dem Argument, der Gerichtshof sei ja »zum Teil mit Sozialdemokraten besetzt«. Zweifellos schien es für Bayerns Regierende günstiger zu sein, in selbstständiger Regie alle Verantwortung auf die Nationalsozialisten zu schieben, diese indessen als achtbare, weil national gesinnte Leute zu behandeln und sie mit geringen Strafen davonkommen zu lassen. Dem entsprachen schließlich sowohl die Art und Weise, wie Hitler großer Raum zu öffentlicher Selbstdarstellung geboten wurde, als auch die am 1. April 1924 verkündeten empörend geringen Strafen.

Gleichzeitig begannen die Nazis, eigene Legenden zu verbreiten. Bald war die Rede von einer »Bluttaufe« und von »Blutzeugen«. Sogenannte Blutfahnen sahen sich bald zu Reliquien der Partei erhoben. Alle Ortsgruppen wurden angewiesen, alljährlich am 9. November Gedenkfeiern abzuhalten und dabei auch die Toten des Ersten Weltkrieges einzubeziehen. Das gab ihren November-Veranstaltungen von Anfang an eine doppelte Stoßrichtung: Die Opfer des Putsches mit denen des Krieges identifizierend hieß es, wie die Soldaten des Krieges seien auch die der Partei für das »Vaterland gefallen«. Im Grunde ging es um die Kontinuität des Krieges, wofür der Putsch von 1923 zum Symbol einer »das Letzte gebenden Einsatzbereitschaft« verklärt wurde. Als die NSDAP 1933 dann an die Macht gebracht worden war, boten sich neue Möglichkeiten der Propaganda. Der Parteimythos sollte nun für alle Deutschen verbindlich gemacht werden. In München wurde der Marsch zur Feldherrnhalle zelebriert. Festlich gestaltete Zeremonien wiederholten sich nun Jahr für Jahr, parallel übrigens zu den Veranstaltungen, die regelmäßig an die Schlacht um den flandrischen Ort Langemarck erinnerten, bei der militärisch unerfahrene Studenten und Soldaten Anfang November 1914 sinnlos in einen aussichtslosen Kampf geschickt wurden.

Alles Gedenken sah sich zu einem Sinnbild bedenkenloser Opferbereitschaft der Jugend erhoben und in den folgenden Jahren mit jeweils aktuellen Aspekten versehen. In den Veranstaltungen kamen religiöse Dimensionen zum Vorschein, wobei die heilsgeschichtliche Überhöhung des Putsches geschickt die Gläubigkeit vieler Menschen nutzte. Der »Blutorden« mit der Aufschrift »Und ihr habt doch gesiegt« galt fortan als höchste Auszeichnung der Nazipartei. Jahr für Jahr und bei wachsendem Anteil der Wehrmacht klang in den weihevoll gehaltenen Reden an: Wenn man nur wolle, könne sich jede Katastrophe in einen Sieg verwandeln. Nur Feiglinge würden sich selbst aufgeben, erforderlich seien »innere Härte und Widerstandsfähigkeit«.

Besorgter Massenauflauf in München
Besorgter Massenauflauf in München

Seit 1939 galt der 9. November sogar als staatlicher Feiertag. Die fällige Veranstaltung – »gestört« allerdings durch das mutige Attentat von Georg Elser – wurde genutzt, um die »Vorsehung« zu preisen, die ihre Hände schützend über Hitler gehalten habe. In den Kriegsjahren wechselten dann die Stimmungen von Siegesrausch und demonstrativ betonter Kompromisslosigkeit gegenüber den Kriegsgegnern hin zu dröhnenden Bekundungen unbeirrbarer Siegeszuversicht. Als sich ein Kriegserfolg nicht mehr erreichen ließ, konnten auch zweckdienliche Rückgriffe auf die Geschichte nicht mehr helfen …

In der DDR-Geschichtsschreibung spielte das die NSDAP fördernde Zusammengehen bayerischer Politiker und Militärs mit dieser stets eine Rolle. Ausführlich und sehr konkret benannte dies Kurt Gossweiler in seinem 1982 erschienenen Buch »Kapital, Reichswehr und die NSDAP«. Oft wurde von einem Hitler-Ludendorff-Putsch gesprochen, der zwar scheiterte und dennoch eine wichtige Zäsur auf dem Weg Deutschlands in die faschistische Diktatur bezeugte. Das offiziöse Geschichtsbild der BRD hob eher den Alleintäter Hitler hervor. Ganz im Sinne totalitaristischer Deutungen wurde der Putsch mit dem kommunistischen Versuch eines Aufstandes in Hamburg im gleichen Jahr nicht nur verglichen, sondern regelrecht gleichgesetzt. Demokratie und Weimarer Republik seien 1923 von »links und rechts« bedroht und schließlich 1933 gemeinsam beseitigt worden. Manches davon scheint auch in aktuellen Büchern auf. Geredet wird von einem Schicksalsjahr, vom Horrorjahr, von schier unglaublicher Widerstandsfähigkeit der Demokratie usw. Da kann es auch kaum verwundern, dass selbst Antidemokraten wie Kahr, Lossow, Seißer und nicht zuletzt auch Seeckt als Retter von Demokratie und Republik erscheinen.

Eines der neueren Bücher hebt sich davon allerdings ab. Geschrieben hat es Wolfgang Niess, ein Historiker, der lange Jahre als Redakteur und Moderator süddeutscher Rundfunkanstalten tätig war. Werbeträchtig nutzt auch er den Begriff »Hitlerputsch« als Titel, den er aber im Text hinterfragt und ablehnt. Gestützt auf Quellen und bislang vorliegende Publikationen (DDR-Autoren bleiben aber auch hier unerwähnt, die zwielichtige Rolle der Bayerischen Volkspartei vernachlässigt) zeichnet er ein weitgehend zutreffendes Bild des Geschehens in Bayern in den frühen 1920er Jahre. Ausführlich behandelt er das »Making of Hitler«, den Traum vom »Marsch auf Berlin« und vom »Aufmarsch für die Diktatur« usw. Sein Fazit: Der Hitlerputsch war keineswegs nur Hitlers Putsch. Mit Hitler und seiner NSDAP habe die damalige existenzielle Bedrohung der Demokratie wenig zu tun. Sie seien viel zu schwach gewesen und hätten ebenso wie die Kommunisten keine ernsthafte Gefahr dargestellt. Ein genauer Blick auf alle unverhohlen betriebenen Staatstreich- und Diktaturbestrebungen des Herbstes 1923 würde exemplarisch zeigen, wie wenig die gängige Formel, die Extremisten von links und von rechts hätten die Republik zerstört, der Wirklichkeit gerecht wird. Das würde auch der Mitverantwortung konservativ-nationaler und nationalistischer Kreise für deren Zerstörung nicht gerecht werden. Wohl wahr und wie aktuell!

Prof. Dr. Manfred Weißbecker ist Faschismusforscher in Jena; gemeinsam mit seinem Berliner Zunftkollegen Kurt Pätzold verfasste er unter anderem die ersten marxistischen Biografien von Adolf Hitler und dessen »Stellvertreter« Rudolf Heß sowie eine viel beachtete Geschichte der NSDAP (PapyRossa).

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