- Kommentare
- Krieg im Nahen Osten
Gaza und Israel: Kompromisslose Menschlichkeit
Sheila Mysorekar über die Berichterstattung zum Krieg im Nahen Osten
Ich muss zugeben: Momentan ertrage ich die Nachrichten nicht. Das sage ich als Journalistin, die normalerweise von früh bis spät in regelmäßigen Abständen checkt, was es Neues gibt. Die Neuigkeiten dieser Tage: ein unfassbarer Terrorangriff seitens der Hamas, der einen echten Zivilisationsbruch darstellt. Bombenangriffe und Zerstörung, Kinderleichen unter Trümmern, brutal niedergemetzelte Jugendliche, Familien, die um ihre verschleppten Angehörigen bangen. Und Stimmen, die Massaker rechtfertigen.
Was sich augenblicklich in Deutschland abspielt: antisemitische Attacken und Angriffe auf Synagogen; einzelne islamistische Aufmärsche, aber auch Friedensdemos. Kritik an der israelischen Regierung, die häufig als Antisemitismus interpretiert wird. Verurteilung von Antisemitismus, zu oft jedoch gepaart mit Muslimfeindlichkeit und generellem Rassismus. Und als absurde Krönung: Hubert Aiwanger, Vize-Ministerpräsident von Bayern und »seit dem Erwachsenenalter kein Antisemit mehr«, ausgerechnet er behauptet, Antisemitismus würde von Einwanderern nach Deutschland eingeschleppt. Weil es in Deutschland ja früher noch nie Antisemitismus gab. Ist was völlig Neues hier.
An diesem Punkt halte ich die Nachrichten nicht mehr aus. Wieso müssen deutsche Medien jeden hetzerischen Unsinn, den ein Politiker von sich gibt, treudoof abdrucken? Wieso jeden noch so polarisierenden Kommentar ausstrahlen? Wo sind die gemäßigten, differenzierenden Stimmen? Artikel, die Antisemitismus klar verurteilen, ohne pauschal alle Muslim*innen dessen zu bezichtigen?
Sheila Mysorekar ist Vorsitzende der Neuen Deutschen Organisationen, einem Netzwerk postmigrantischer Organisationen. Für »nd« schreibt sie die monatliche Kolumne »Schwarz auf Weiß«. Darin übt sie Medienkritik zu aktuellen Debatten in einer Einwanderungsgesellschaft.
Britische und französische Medien sind da differenzierter; unterschiedliche Perspektiven zu dem Konflikt kommen zu Wort. Dadurch werden die Ereignisse verständlicher – was nicht dasselbe ist, wie Verständnis dafür zu haben. Eine Konstante in Medien des europäischen Auslands: Die Massaker an Zivilist*innen – auf beiden Seiten – werden kompromisslos verurteilt. Politisch unterschiedlich verortete Medien sind sich einig darin, dass das humanitäre Völkerrecht auch bei Kriegen beachtet werden muss.
Aus offensichtlichen historischen Gründen nimmt Deutschland eine besondere Rolle gegenüber Israel ein; das steht außer Frage. Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsraison, wie Bundeskanzler Olaf Scholz kürzlich in einer Regierungserklärung aufs Neue bestätigte. Viele deutsche Medienhäuser scheinen es dahingehend zu interpretieren, sich mit Kritik an der Regierung Israels zurückzuhalten; selbst kritische jüdische Stimmen sind kaum zu hören. Deborah Feldman in der Talkshow von Markus Lanz ist eine der Ausnahmen.
Die nigerianische Autorin Chimamanda Ngozi Adichie nennt so etwas »The Danger of a single Story« (Die Gefahr einer einzigen Geschichte): der eigene Kontext, aber auch die eigenen Vorurteile und Stereotypen verhindern es, dass wir eine komplexe Realität so wahrnehmen, wie sie wirklich ist. Wir brauchen jedoch unterschiedliche Perspektiven, um ein möglichst vollständiges Bild zu bekommen. Dieser Tage nehme ich britische, französische oder lateinamerikanische Medien zu Hilfe, um eine komplettere Berichterstattung zu erhalten.
Die Lage in Israel und Palästina ist äußerst kompliziert; hinzu kommt noch die besondere deutsche Verantwortung. Ich verstehe Medienschaffende, die damit überfordert sind. Aber man könnte sich auf ein Minimum einigen: Dass Massaker an Zivilist*innen niemals gerechtfertigt sind, egal von welcher Seite und egal mit welcher Begründung. Auf das absolute, durch nichts relativierte Bekenntnis zu Menschenrechten und Völkerrecht. Genfer Konventionen und so Zeugs.
Gleichzeitig geraten andere Konflikte in den Hintergrund: Krieg in der Ukraine. Im Sudan die gewaltsamen Angriffe auf die Zivilbevölkerung mit bisher rund sechs Millionen Vertriebenen. Die Türkei bombardiert flächendeckend kurdische Gebiete, wohl wissend, dass die internationale Aufmerksamkeit momentan auf Israel gerichtet ist. Wachsende Spannungen in Bosnien-Herzegowina. Hungersnot in Afghanistan.
Es gibt keine Rechtfertigung, unschuldige Jugendliche zu entführen und zu ermorden oder Kleinkinder zu bombardieren. Oder irgendwo einzumarschieren. Minderheiten zu vertreiben. Mädchen die Bildung zu verwehren. Zivilbevölkerung auszuhungern. Ich fordere eine kompromisslose Menschlichkeit.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.