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Haudegen an der Schreibmaschine
Eine neue Biografie beschreibt die Widersprüche des »rasenden Reporters« Egon Erwin Kisch
Niemand sonst sah mit einer Zigarette so lässig aus wie Egon Erwin Kisch. Locker in den Mundwinkel gehängt, war sie der stete Begleiter des »rasenden Reportes«, der von Kontinent zu Kontinent eilte, immer auf der Suche nach der nächsten Story, der nächsten Enthüllung, der nächsten Reportage. Dazwischen hielt sich der 1885 geborene Kisch meist in Kaffeehäusern auf, in denen er sich überall auf der Welt zuhause fühlte. In diesen nikotin- und koffeingeschwängerten Orten stand Egonek, wie er von Verwandten und Freund*innen genannt wurde, immer im Zentrum und kultivierte dabei ein Selbstbild, das zum Mythos wurde. Er berichtete von seinen Abenteuern und Erfahrungen, präsentierte seinen Bekannten Kunst- und Zauberstücke und zu späterer Stunde auch schon mal seinen nackten Oberkörper, der gänzlich tätowiert war. Kisch, der Haudegen an der Schreibmaschine auf der »Hetzjagd durch die Zeit«, wie ein Reportagenband von ihm aus den 1920er Jahren hieß. Für all das bekam er Beifall von zahlreichen Seiten, von Alfred Döblin über Joseph Roth bis zu Anna Seghers.
»Thomas Mann der Reportage«
Egon Erwin Kisch war vieles gleichzeitig: Journalist, Schriftsteller, Prager, Jude, Kommunist; er war Freund Franz Kafkas, Max Brods oder Charlie Chaplins. Zwischen all diesen Rollen wurde er zum Gründer und wohl berühmtesten Vertreter der modernen, deutschsprachigen Reportage. Kisch gelang es, sie in den Rang von Literatur zu heben. Der österreichische Regisseur Billy Wilder nannte ihn den »Thomas Mann der Reportage«.
Bis 1913 arbeitete Kisch als Lokalreporter für die »Bohemia«, eine Tageszeitung in Prag. Sein großes Vorbild war der französische Schriftsteller und Journalist Émile Zola. In der »Bohemia« veröffentlichte Egonek eine Serie von Reportagen über einen Aufenthalt in London – es war seine erste umfangreiche Arbeit aus dem Ausland. In seinen Geschichten schrieb er in distanzierter Sachlichkeit über die kleinen Leute in den großen Städten, über das Abenteuer des Alltags und den Alltag in Krieg und Revolution.
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Wer sich heute in die Reportagen vertieft, mag sich wundern, ob der Autor das wirklich alles so erlebt hat: Kisch in den Armenvierteln Londons, im Maschinenraum eines Überseedampfers, Kisch im jüdischen Shtetl New Yorks, an der Front im Ersten Weltkrieg, bei den Revolutionär*innen in Wien 1918 oder inmitten der Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg. Überall war der »rasende Reporter« anscheinend dabei und schrieb darüber seine packenden und spannenden Berichte.
Wahrhaftig, nicht wahrheitsgemäß
Als packende und spannende Geschichte kommt nun auch die neue Biografie über Egon Erwin Kisch von Christian Buckard daher, die er zu dessen 75. Todestag veröffentlicht hat. Fakten- und kenntnisreich zeichnet der Journalist Buckard darin auf rund 450 Seiten die »Weltgeschichte des rasenden Reporters« nach. Das Buch gewährt einen tiefen Einblick in das Leben und die Widersprüche des Schreibens von Kisch – gekonnt eingebettet in die gesellschaftlichen Verhältnisse. Buckard gelingt somit auch eine Medienanalyse, in der Fragen nach Parteilichkeit oder Neutralität von Journalismus und Literatur, von Objektivität und Fiktion verhandelt werden.
Der Erste Weltkrieg sollte sowohl für Kischs Biografie als auch für sein Schreiben eine Zäsur darstellen. Der Krieg war für ihn, der es an der serbischen Front bis zum Oberstleutnant brachte, zunächst eine »unerhört interessante Angelegenheit«. Nach einer schweren Verwundung ergriff er entschieden Partei gegen den Krieg und schrieb über den alles andere als heroischen Alltag der Frontsoldaten. 1921 zog es Kisch nach Berlin, von wo aus er seine ausgedehnten Reisen begann.
Die literarischen Reportagen, die er aus Amerika, aus Australien oder der Sowjetunion schickte, mochten zwar nicht durchweg wahr sein, garantierten jedoch enormen Unterhaltungswert und wurden daher gern und viel gelesen. Spannende Lektüre war gewiss, Langeweile ausgeschlossen. Für Kisch zählten die Pointen, die Storys, der Fluss und die Lesbarkeit seiner Texte. Manchmal musste dafür auch eine Übertreibung herhalten, eine kleine Nebengeschichte oder ein erfundener Charakter. Kisch war somit eher Schriftsteller als Journalist. Komplett erfunden waren seine Berichte zwar nicht, aber der Autor vertraute auf die »logische Phantasie« seines Publikums. »Nach Kischs Auffassung musste vielleicht nicht alles Wort für Wort stimmen«, schreibt Buckard, »aber alles musste letztlich doch wahrhaftig sein«.
In Journalistenschulen würde Kisch so heute sicher nicht mehr durchkommen. Aber er war doch ein großer Erzähler, der scheinbar mühelos und dauernd publizierte: Allein in den 1920er Jahren veröffentlichte er zwölf Bücher. Doch war er keine One-Man-Show. Christian Buckard verdeutlicht eindrücklich, dass all die Manuskriptseiten abgetippt, organisiert und druckfertig gemacht wurden von Kischs Ehefrau Gisela »Gisl« Lyner. Ohne weibliche Unterstützung wäre der Haudegen Kisch wohl nicht weit gekommen.
Parteilichkeit als bestimmendes Element
Gestartet als Lokalreporter, entwickelte sich Kisch unter der Obhut von Gisl nicht nur zum weltweit gefeierten Reporter, sondern auch mehr und mehr zu einem, wenngleich sehr unorthodoxen, Kommunisten. Auch davon erzählt Buckard. Während Gisl der kommunistischen Bewegung treu ergeben war, fand sich Kisch 1918 – wohl eher aus Geltungsbedürfnis denn aus politischer Überzeugung – an der Spitze der Wiener Rotgardisten und damit mitten in der Revolution wieder. »Um jeden Preis«, so der Schriftsteller Robert Musil, sei er damals darum bemüht gewesen, »sich in den Mittelpunkt einer Staatsaktion zu bringen«. Ein Jahr später wurde Kisch auch Mitglied der Kommunistischen Partei und blieb es, allen Widrigkeiten zum Trotz, bis an sein Lebensende.
1925/26 bereiste Kisch die Sowjetunion. Sein Urteil war eindeutig: Moskau sei die »äußerlich und innerlich« schönste Stadt der Welt, schrieb er. Sein Band »Zaren, Popen, Bolschewiken« zeichnete ein rundum positives Bild der Sowjetunion. Hier war Kisch Opportunist. Sowjetischen Antisemitismus bemerkte er als Jude zwar, hielt sich aber mit Kritik zurück. Fortan sollte die Parteilichkeit bestimmendes Element seines Schreibens sein. Stalin hielt er die Treue, obwohl er von dessen Verbrechen wusste und diese auch im privaten Kreis kritisierte. Öffentlich ließ er sich jedoch mehrfach zur Aussage hinreißen: »Ich denke nicht. Stalin denkt für mich.« Auch nach seiner Rückkehr aus dem mexikanischen Exil 1946 nach Prag entschied sich Kisch dafür, den tschechischen Kommunisten sowie Stalins Regime keinen Widerspruch entgegenzusetzen.
Als Kommunist war Kisch den Nazis ein Dorn im Auge. 1933 wurde er verhaftet, kam jedoch als tschechischer Staatsbürger nach einigen Tagen wieder frei. Er beteiligte sich daraufhin am antifaschistischen Widerstand. Buckard geht in seinem Buch auch der Frage nach, welche Rolle Kischs Identität als Jude dabei spielte. Ein Zionist war er sicher nicht, lehnte den Zionismus aber auch nicht rundum ab. Als Kisch nach dem Holocaust zurückkehrte, gab es sein jüdisches Prag nicht mehr. »Prag ist voll von Freunden, die nicht mehr leben, jedes Haus, jede Straßenecke drängt Tränen in die Augen.« Kisch, der Kommunist, der Jude und Weltenbummler, war ein gebrochener Mann, erschüttert über die Zerstörung der alten Welt und insbesondere seiner geliebten Heimstadt Prag. Nach zwei Schlaganfällen starb er dort am 31. März 1948. Die lässige Zigarette im Mundwinkel blieb in diesem ereignisreichen und von Widersprüchen geprägten Leben bis zum Ende sein Markenzeichen.
Christian Buckard: Egon Erwin Kisch – Die Weltgeschichte des rasenden Reporters. Die Biografie. Berlin-Verlag, 448 S., geb., 28 €.
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