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Barbara Junge: Die Seiteneinsteigerin
Die Mutter der »Kinder von Golzow«: Barbara Junge zum 80. Geburtstag
Seit über drei Jahrzehnten steht für die Filmchronik der »Kinder von Golzow« nicht mehr nur der Name Winfried Junge. Diese Defa-Innovation über eine Klasse, die 1961, wenige Tage nach Beginn des Baus der Berliner Mauer, im Oderbruch eingeschult wurde, und über das Heranwachsen von 18 ihrer Schüler zu Bürgern der DDR und heutigen Bundesbürgern ist nun schon lange als Arbeit von Winfried und Barbara Junge ausgewiesen. Bis 2007 fortgesetzt, ist sie die älteste Langzeitdoku der Filmgeschichte. Die Deutsche Kinemathek führte sie nach einer internationalen Umfrage seit 1995 mit »Lebensläufe« (1980/81) unter den »hundert wichtigsten deutschen Filmen in einhundert Jahren Weltkino«.
»Lebensläufe« wurde zum Grund, die Chronik nicht zur deutschen Zeitenwende aufgeben zu müssen. Ab 1990 erlangten zehn weitere Filme, an denen sich nun auch die ARD beteiligte, das nötige Fördergeld. Jeder von ihnen zwei Stunden und länger. Der letzte war ein Vierteiler von neuneinhalb Stunden, der im Fernsehen als Miniserie lief, auf vier Sendeplätzen.
Schon zu DDR-Zeiten, als die Defa-Oberen wegen der abenteuerlich wachsenden Filmlängen den Kopf schüttelten, schrieb Uwe Kant, der danach noch Mittexter am Kommentar war: »Ein Film über den Bau einer Eisenbahnstrecke muß nicht unbedingt ebenso lang sein wie diese Strecke selbst. Geht es jedoch um den Verlauf menschlichen Lebens, bedarf das hingegen einer gewissen Erstreckung.« Realisiert wurde das mit Barbara Junge.
Nein, aus Golzow ist Barbara nicht. Und die erste Lehrerin der Filmkinder heiratete erst mal jemand anderen. Aber durch »Golzow« lernten sich die Junges kennen: 1966, als »Elf Jahre alt«, der dritte Film der Chronik, im Eröffnungsprogramm der Internationalen Dokumentarfilmwoche in Leipzig lief. Im Pressegespräch tags darauf dolmetschte Barbara in einem Studenteneinsatz einen kroatischen Filmemacher. Was es mit seinem Film auf sich haben sollte? Nur misslang das ziemlich. Und als sich Barbara und Winfrieds Blicke trafen, erntete der auf sein breites Grinsen eine Grimasse sondergleichen. Diese nötigte zu einer Entschuldigung, begünstigte aber auch einen Annäherungsversuch.
Zum verabredeten Wiedersehen kam Barbara mit ihrer Studienfreundin und stellte klar, sie sei verheiratet, habe ein Kind und sei heute 23 geworden. Vom Kind zeigte sie ein Foto: Tochter Laila, ein Jahr alt. In einer Tanzpause abends im Hotel »Astoria« glaubte ein Kommilitone ihres Mannes Winfried Junge daran erinnern zu müssen, was ein Araber mache, wenn dessen Frau fremdgehe. Und gab zum Entsetzen von Klaus Gysi und Erwin Geschonneck, die Barbara und Winfried zu sich an den Tisch gebeten hatten, mit einer eindeutigen Geste auch gleich die Antwort.
Fürs Erste hatte es sich also ausgetanzt. Weil aber Barbara ihrem Mann nach dem Studium, zu dem er delegiert worden war, nicht in den Libanon folgen wollte, kam es zu einer einvernehmlichen Scheidung. Und so konnten Barbara und Winfried, die Thüringerin und der Berliner, 1968 heiraten. Da lebten sie bereits zu dritt in Junges Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung: Barbara, Laila und Winfried.
Nach Barbaras Englisch-/Russisch-Studium arbeitete sie in Berlin zunächst bei Intertext, dem Zentralen Übersetzungsdienst der DDR. In Gründung war damals die Arbeitsgruppe »Camera DDR«. Die sollte im Auftrag des Außenministeriums Defa-Filme in bis zu 26 Sprachen für die Auslandsinformation herstellen. Gesucht wurden dafür Redakteure und Synchronregisseure, die an den Texten, am Mikro und beim Anlegen der Töne im Schneideraum mit Muttersprachlern zusammenarbeiteten. Barbara reizte das Angebot, und so wurden die Junges Kollege und Kollegin. Als Schülerin wie als Studentin war sie ja schon immer unter den Besten gewesen, und im Vertrauen auf ihren hohen IQ konnte sie Neues eigentlich kaum überfordern.
Bald brauchte Barbara im Schneideraum keine Kollegin vom Schnitt mehr. Ehe sie der etwas erklären konnte, hatte sie es schon selbst erledigt. Das spare Zeit, meinte sie. Auch für den Besuch im benachbarten Schneideraum, aus dem Winfried Junges viel erfahrene Schnittmeisterin Charlotte Beck pünktlich zu Feierabend floh, wenn »ihr Regisseur« wieder mal im Material stand, um beispielsweise Übriggebliebenes und Wiedersehenswertes aus 18 Drehjahren für einen ersten zusammenfassenden Film zum 30. Jahrestag der DDR zusammenzusuchen.
Und weil »Frau Kollegin« von »Camera DDR« nicht immer ausgelastet war und dafür freigestellt werden konnte, brachte sie ab 1978 erst einmal Ordnung in den ganzen Golzower »Hirsebrei«, indem sie das gesamte Archiv handschriftlich per Kartei erfasste. Noch gab es in der DDR für so etwas keine Computer. Zusammen mit dem 1978 erstmals in Farbe neu Gedrehtem wuchs unter Charlotte Becks Händen im Rohschnitt eine Sechseinhalb-Stunden-Fassung des Films zum DDR-Jubiläum heran, die zurückgewiesen wurde – verständlicherweise. Auf 105 Minuten heruntergekürzt, nach Brecht/Eislers Kinderhymne »Anmut sparet nicht noch Mühe« betitelt und 1980 neu dem 35. Jahrestag der Befreiung gewidmet, gab’s dafür 1981 den Nationalpreis 3. Klasse, den sich Kameramann Hans-Eberhard Leupold, Uwe Kant und Winfried Junge teilten. Im Abspann immerhin erstmals der Name Barbara Junge.
Der Preis ermutigte die Junges, erneut an die vier Stunden Farbmaterial aus der Gegenwart der »Kinder von Golzow« zu erinnern, die der Kürzung zum Opfer gefallen waren. Sie erreichten, dass es zu einer »Werkstattfassung« aufgearbeitet und im Staatlichen Filmarchiv hinterlegt werden sollte. Als Alternative hätte die Abwäsche des Materials zur Silberrückgewinnung gedroht. Auch dafür gab es ja Planvorgaben. Wider Erwarten wurden diese »Lebensläufe – Die Geschichte der Kinder von Golzow in einzelnen Porträts«, die also noch gar keine »staatliche Zulassung« fürs Kino hatten, über die Festivals von Neubrandenburg, Leipzig und das Internationale Forum des jungen Films der Berlinale 1982 zum erfolgreichsten Film des Langzeitprojekts und begründeten seinen späteren Ruf.
Barbara Junge wurde Schnittmeisterin. Und weil die Junges nach Klärung der Perspektive ihres Haupt- und Lebenswerkes auch wieder andere Filme machen wollten, setzten sie angesichts der Tatsache, dass es mit passenden Wortmeldungen zur DDR schwierig geworden war, Filme in Ungarn und Libyen durch. Oder Ko-Produktionen mit England oder Syrien, bei denen Barbara, diesmal vor allem ihrer Sprachkenntnisse wegen, aber auch de facto schon als Ko-Regisseurin vor Ort dabei war.
Das Renommee der »Lebensläufe« löste nach der deutschen Vereinigung sofort beträchtliche Förderung vor allem vom Bund und vom Hamburger Filmbüro aus. Und bei »Drehbuch: Die Zeiten. Drei Jahrzehnte mit den Kindern von Golzow und der Defa« (1992), dem ersten nicht mehr in der DDR entstandenen Film der Chronik, las man nun: »Ein Film von Barbara und Winfried Junge«. Und aus Tochter Laila wurde Laila Stieler, eine Produzentin und erfolgreiche Drehbuchschreiberin, unter anderem für die Filme von Andreas Dresen.
Barbaras stetig gewachsener erheblicher Anteil an Junges Filmen bewog 1996 die neue, vereinte Berliner Akademie der Künste, sie zusammen mit Winfried zum Mitglied zu berufen. Bis vor Kurzem waren sie hier das einzige Ehepaar. 2008 ehrte Brandenburg beide auch mit dem »Roten-Adler-Orden« für Verdienste um das Land. Und die Defa-Stiftung zeichnete sie gemeinsam mit dem langjährigen Kameramann Hans-Eberhard Leupold für ihr Lebenswerk aus.
Nun wird man vielleicht fragen, wie es der Ehe bekommen ist, wenn die Junges mehr als ein Vierteljahrhundert am gleichen Film zusammenarbeiteten, davon 16 Jahre in Ko-Regie. Natürlich blieb da Streit nicht aus. Beispielsweise wenn Winfrieds Dramaturgie und Barbaras Schnitt nicht übereinkamen. Aber der Wille, ein großes, einmaliges Vorhaben gelingen zu lassen, erzwang immer wieder Lösungen, zu denen beide Junges stehen mussten und wollten. Das half, den Fliehkräften zu widerstehen, die jeder Ehe innewohnen. Barbara, die »Seiteneinsteigerin« war zu Winfrieds erster Kritikerin geworden, unverzichtbar also. Und spricht man von Winfried Junge als »Vater« der Kinder von Golzow, so sollte nicht vergessen werden, dass sie in Barbara Junge auch eine »Mutter« haben. Doch da sie nun schon alle Rentner sind, muss von Eltern nicht mehr die Rede sein.
Aber wer ist der Schreiber, der von all dem nicht nur weiß, sondern es auch noch ausplaudert? Natürlich der Ehemann. Weil er meint, dass Filmer, die anderer Leben öffentlich machen, mit dem eigenen nicht hinter dem Berge halten sollten. Und er sagt auch zum 80. von Herzen Dank, Gratulation und Glückwunsch!
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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