• Kultur
  • Film »Die Bologna-Entführung – Geraubt im Namen des Papstes«

»Die Darstellung beruht auf meinen eigenen Erfahrungen«

Regisseur Marco Bellocchio über seinen neuen Film »Die Bologna-Entführung« und die christliche Kirche

  • Interview: Susanne Gietl
  • Lesedauer: 5 Min.
Edgardo Mortara (Enea Sala) im Schoß Pius' IX. (Paolo Pierobon).
Edgardo Mortara (Enea Sala) im Schoß Pius' IX. (Paolo Pierobon).

Marco Bellocchio, fast hätten Sie Ihren Film »Die Bologna-Entführung – Geraubt im Namen des Papstes« nicht realisiert, weil Steven Spielberg dieselbe Idee hatte. Aber theoretisch hätten Sie doch beide an dem Projekt arbeiten können, da die Filme allein durch die Sprache und ihren jeweils anderen Stil sehr unterschiedlich geworden wären.

Als ich erfuhr, dass Steven Spielberg auch einen solchen Film drehen möchte und schon einige Mitarbeiter ins italienische Viterbo geschickt hatte, habe ich die Arbeit an meinem Film gestoppt. Das hatte ganz praktische Gründe, da der Film natürlich einiges an Geld kostet. Es war nicht so, dass ich direkt Angst vor der Konkurrenz hatte – für mich ist das auch eine Frage des Stils und Prinzips. Wenn ich erfahre, dass ein so großartiger Regisseur wie Spielberg einen ähnlichen Film machen möchte, warum sollte ich das dann auch tun? Also habe ich das Projekt abgebrochen. Dann haben wir erfahren, dass Spielberg die Idee doch nicht umsetzen wird, also konnten wir wieder drehen. Hätte er mit dem Film weitergemacht, dann hätte ich ihm die Geschichte überlassen. Es wäre dann ein ganz anderer Film geworden. Jetzt ist es eine klassische italienische Geschichte.

Der jüdische Junge Edgardo Mortara wächst unter der Obhut des Papstes auf, weil er von seinem Hausmädchen heimlich getauft wurde. Enea Sala, der den jungen Edgardo spielt, ist selbst nicht getauft. Wie haben Sie ihm das religiöse Thema des Films nahegebracht?

Immer mehr Kinder haben heutzutage gar keinen Bezug mehr zur Religion und haben nie eine Kirche betreten. Insofern ist Enea Sala kein Einzelfall. Dass er keinen Bezug zur Religion hat, war kein Hindernis. Die Intensität, die Enea in seiner Rolle zeigt, kommt bestimmt nicht von Edgardos Beziehung zur Religion und den Erfahrungen, die Edgardo durch Religion gemacht hat, sondern ist geprägt durch seine Beziehung zum Papst, zu seinen Eltern und seiner Zuneigung ihnen gegenüber. Von seinen Eltern ist er getrennt, weil er getauft wurde. In einer Szene möchte Edgardo Jesus vom Kreuz befreien, indem er die Nägel vom Kruzifix entfernt. Er versucht so, das Judentum und das Christentum in Einklang zu bringen, um wieder familiäre Zuneigung zu bekommen.

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Wie konnten Sie sicherstellen, dass alles historisch genau umgesetzt wird?

Ich habe mich mit Mortaras Urgroßnichte Elèna Mortara und mit vielen anderen jüdischen Personen über den Fall unterhalten. Von uns in der Filmproduktion ist niemand jüdisch, aber wir haben uns sehr viel mit Gebeten, Ritualen und Bräuchen, die in einer jüdischen Familie praktiziert werden, auseinandergesetzt. Auch vor Ort haben wir uns noch beraten lassen. Übrigens haben der Vatikan und die katholische Kirche nicht versucht, den Film zu verhindern – sie haben klar anerkannt, dass die Entführung von Edgardo Mortara ein Fehler war.

Gab es diesbezüglich ein offizielles Schuldbekenntnis vom Vatikan?

Im Vatikan wurde ausführlich darüber gesprochen. Dasselbe gilt auch für die anderen Prälate. Zahlreiche Priester haben den Film gesehen. Wir haben versucht, den Film dem Papst zu zeigen – wir wissen aber nicht, ob er den Film tatsächlich gesehen hat. Der Papst hat auf jeden Fall eine gewisse Toleranz gegenüber Menschen, die anders denken als er. Andererseits gibt es im Vatikan sehr viele Widersprüche. So wurde etwa Papst Pius IX., der als Antisemit gilt, im Jahr 2000 von Papst Johannes Paul II. selig gesprochen, was die jüdische Gemeinschaft sehr empört hat.

Was war Ihnen bei der Darstellung von Papst Pius IX. und der Kirche wichtig?

Ich bezeichne mich als »nicht gläubig«, aber ich wurde christlich erzogen und habe daher auch ein sehr persönliches Verhältnis zur Kirche. Die Darstellung der Kirche beruht auf meinen eigenen Erfahrungen, die ich als Kind gemacht habe. Ich habe die Kirche als sehr intolerant, antikommunistisch und fortschrittsfeindlich erlebt. Was Pius IX. betrifft, habe ich mich nicht mit der Geschichte seines Pontifikats befasst, stattdessen konzentriere ich mich auf die religiöse Intoleranz seitens der katholischen Kirche, die Pius IX. dazu brachte, das Kind nicht zurückzugeben. Diese Art von Intoleranz und Terrorismus habe ich auch kennengelernt. Als ich klein war, reisten Missionare um die Welt, um neben Ungläubigen auch Angehörige anderer Religionen zu bekehren. Heute macht das die Kirche nicht mehr. Der Film ist Teil eines Prozesses, der von der Offenheit des jetzigen Papstes gezeichnet ist. Er lehnt diese Prinzipien der Bekehrung klar ab, stattdessen tritt er mit Menschen anderer Religionen in den Dialog.

Vor Kurzem wurde bekannt, dass die römisch-katholische Kirche die Taufe von transgeschlechtlichen Personen erlaubt. Wenn keine »Gefahr eines öffentlichen Skandals oder einer Verunsicherung unter den Gläubigen besteht«, dürfen Transgenderpersonen auch Taufpat*innen oder Trauzeug*innen sein. Warum passt sich die Kirche gesellschaftlichen Entwicklungen so schleppend an?

Es gibt in der katholischen Kirche eine fortschreitende Toleranz und Offenheit, andererseits gibt es auch alte Grundsätze, die sie nicht negieren können. Die zehn Gebote sind ein gutes Beispiel. Die katholische Kirche kann die zehn Gebote nicht abschaffen. Das zweite Gebot »Du sollst keinen anderen Gott neben mir haben« kann sie aber zum Beispiel abmildern, ihre feindselige Haltung gegenüber anderen Religionen ablegen. Im Sinne des Gebots »Du sollst nicht töten« muss sie sich jedoch ganz klar gegen Abtreibung positionieren. Das lässt sich nicht ändern, wenn diese grundsätzlichen Gebote nicht über Bord geworfen werden sollen – und wenn man das täte, gäbe es die Kirche so nicht mehr. Ebenso wenig kann es einen atheistischen Papst geben.

»Die Bologna-Entführung – Geraubt im Namen des Papstes«, Italien/Frankreich/Deutschland 2023. Regie: Marco Bellocchio, Buch: Marco Bellocchio und Susanna Nicchiarelli. Mit: Paolo Pierobon, Enea Sala, Barbara Ronchi. 134. Min. Jetzt im Kino.

Interview
Regisseur Marco Bellocchio© Pandora Film, Foto: Anna CamerlingoJ...

Marco Bellocchio, geboren 1939 in Bobbio, Provinz Piacenza, ist ein italienischer Filmregisseur und Drehbuchautor. Er gilt als einer der unangepasstesten und gleichzeitig beständigsten Regisseure seines Landes. Bellocchio sucht dem Publikum zeitgenössische politische Themen ebenso zu vermitteln wie menschliche Beziehungen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.