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Pasolinis »Teorema«: Labor der Sünde
»Teorema« wird an der Deutschen Oper zu kontrolliert inszeniert
Die bürgerliche Familie ist unbezwingbare Festung, führt zu sozialer Degeneration, bildet eine Verschweigegemeinde, heißt Leben, um totes Kapital eines grauen Tages mürrisch zu vererben. Der italienische Dichter, Filmemacher, Kommunist Pier Paolo Pasolini gehörte zu den großen Kritikern dessen, was bürgerliche Gefühlskälte und Konsumgesellschaft aus den Menschen machen. Er zog die Armen aus den Vorstädten den linken Studenten vor. Die Kommunistische Partei verstieß ihn, die katholische Kirche nicht: Dass der Mensch von Natur aus heilig ist, wollte er in zahlreichen Romanen, Gedichten, Filmen zeigen, bis man ihn 1975 ermordete, als er an einem großen Enthüllungsbuch arbeitete.
In seiner »Teorema« (übersetzt: Himmelsbetrachtung) erzählte er 1968, in einem Roman und einem Film, die Geschichte der Verführung einer vierköpfigen Mailänder Familie der besitzenden Klasse und ihrer Hausfrau durch einen jungen Mann, einem ungefragten Gast. Sie lassen zu, was nicht sein darf, und können nicht so weiterleben wie zuvor: Der Unglückshort zerbricht, alleine bestehen die Bourgeoisen mit ihren wild gewordenen Wünschen in der Gesellschaft nicht.
Der Komponist Hans-Werner Henze wollte daraus eine Oper machen, brachte das nicht fertig, gab die Aufgabe an den jungen Musiktheater-Avantgardisten Giorgio Battistelli weiter, der für die Münchner Musikbiennale 1992 eine Komposition schrieb. Da bewegten sich zwar Leute auf der Bühne, gesungen wurde aber nicht. Mehr als dreißig Jahre später beauftragte ihn die Deutsche Oper Berlin, dieses Werk zu erweitern um eben: Gesang. Für die Inszenierung in Charlottenburg zeichnet sich das irisch-britische Regie-Duo Dead Center verantwortlich, das zuvor keine Opernerfahrung hatte.
Das Publikum beobachtet noch bevor der erste Ton erklingt einen durchsichtigen Vorhang aus Gaze. Er fungiert als ein Kontrollbildschirm für die in weiße Schutzanzüge gepackten Wissenschaftler, die auf der Bühne hin und her gehen, von Computer zu Computer. An den Rändern des Guckkastens leuchten Daten: Uhrzeit, Angaben zu Blutdruck, Herzschlag pro Minute, dem Sauerstoffgehalt des Raumes. Der Untertitel von Pasolinis Film war »Die Geometrie der Liebe«: Sein Roman beziehungsweise Film war als Versuchsanordnung zu verstehen. In Versuchung bringt die Familie ebenjener unbekannte Gast, der die Szenerie bereits nach dem ersten Bild betritt. Die vier beziehungsweise fünf sitzen am Tisch in einem von sechs, zum Publikum hin offenen Quadern, was den Eindruck eines abstrahierten Puppenhauses erzeugt: Wir haben sie im Kasten. Sie kommen nicht aus ihrer abgesteckten Welt raus, auch wenn die Hintergründe wechseln (Kostüme und Bühne: Nina Wetzel).
Haushälterin Emilia, Mutter Lucia, Tochter Odetta, Sohnemann Paolo und Patriarch Pietro bleiben stumm. Stattdessen sprechen, flüstern, keuchen die Forscher für sie, genauer gesagt: beschreiben so ihr Tun in der dritten Person. Battistelli lässt das Orchester (Leitung: Daniel Cohen) die Stimmung der Familienmitglieder widerspiegeln. Die Streicher wimmern, werden fahrig. Man vernimmt desorientierte Bläser. Die Perkussion schlägt den Boden unter den Füßen weg. Eine dunkle Stimmung macht sich breit in langen Grundtönen. Anfälle von Harmonie verwandeln sich in garstigen Jazz. Nur der Gast darf singen (Nikolay Borchev). Ihn begleitet ein lustigeres Instrument, das eigentlich nicht ins Orchester gehört: das Akkordeon. Einen »Engel der Zerstörung« nannte Pasolini diese Figur; zumindest für das Bürgertum, denn er ist ungezwungen, heiter, bleibt aber, bei allem Sex, unnahbar.
Erst kriegt er die etwas betagte Haushälterin herum, dann legt er sich zum Knaben, verführt Mama im Garten, das Töchterchen wieder drinnen, schließlich im Wald den Patriarchen. Wie in Pasolinis Film zoomt hierfür die Kamera auf das Gesicht, das dann auf die Leinwand projiziert wird: Totalität des erregten Antlitzes, voll drauf auf die Sünde, nur so ist man nah am Menschen. Was die voneinander entfremdeten Familienmitglieder eint, ist auch, was sie letztlich trennt: die Liebe zum Gast. Nachdem sie sich ihm alle hingegeben haben, verschwindet er. Die Sippe, der Haushalt zerbricht. Die Laborsituation löst sich auf, alle Kästen werden grell beleuchtet und in die Gewänder der stummen Spieler schlüpfen nach und nach die singenden Forscher.
Im zweiten Teil geht jeder für sich zugrunde, auch wenn aus den stummen Puppen nun Tenor, Alt, Bariton geworden sind, die aber weiterhin in der dritten Person singen: Die Haushälterin (Monica Bacelli) verwandelt sich in eine apathische Heilige, die ihr Ende im Urschlamm findet. Die Tochter (Meechot Marrero) holt der Wahnsinn. Mutter Lucia (Ángeles Blancas Gulin) sucht Sex-Eskapaden und bläst im Auto einen jungen Mann, der vom selben Darsteller gespielt wird wie ihr Sohn im ersten Teil. Und dann muss sie auch noch dafür Lire zahlen. Paolo (Davide Damiani) will Künstler werden, nimmt das Laken zur Leinwand, aber ihm will kein Ebenbild des Gastes gelingen, so doll er sich auch selbst in Farbe taucht. Der Vater (Andrei Danilov) schließlich entkleidet sich und beendet den Abend mit einem Schrei. Ob das entkleidete Natur, Verzweiflung, neue Geburt ist, kann offenbleiben. Was den Opern-Besuchern vorenthalten wird: In Pasolinis Vorlage gibt der Padrone seine Fabrik ab.
Die Geschichte wird abgewickelt. Die hastige Erzählweise erlaubt nicht, das Elend der bürgerlichen Familie plausibel zu machen. Zwar geht es auch Pasolini nicht um ein psychologisches Lehrstück, aber die Laborsituation als sehr konkrete und dann doch zu allgemeine Rahmung ist ein simpler Weg, die »Teorema« zu aktualisieren. Vorausgesetzt, wir geben uns nicht damit zufrieden, dass Menschen wie Ratten im Labor leben, in ihren eigenen kleinen Wunschsimulationen, umschwirrt von Daten: Das ist Determinismus statt Dialektik. Ein existenziales Kammer-Kasten-Spiel findet statt. Zwischen all den gelingenden Einzelleistungen, den Exzessen der Figuren, dem strengen Aufbau der Bühne, Battistellis stimmiger, durch die Seelen huschender Musik, entsteht so leider keine Spannung.
Nächste Vorstellungen: 23.11., 28.11.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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