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Hamburger Schule: Zu klug fürs Stadion
Eine Erinnerung an die Hamburger Schule, eine früher einmal viel diskutierte Pop-Bewegung
Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen: Wie befreiend das war! Damals, 1993, als Die Sterne mit »Wichtig« aufkreuzten, einem schmutzigen angefunkten Indiepop-Album, das die Zeitschrift »Prinz« zur Platte des Monats kürte. Sie platzten rein in eine Musikwelt, die das Grauen war, und die – man konnte es absehen – noch schlimmer werden würde.
Da gab es diese Kirmesvariante von Techno namens Eurodance, die mit jedem Hit die Messlatte ein Stück tiefer legte – bis man bei »Barbie Girl« angelangt war. Grunge machte nicht nur die Musiker zunehmend depressiv. Gangsta Rap definierte Black Power neu: Aus Malcolm X’ Visionen war ein X-rated Movie geworden. Und in England dachte man: Warum mühselig für eine bessere Welt kämpfen, wenn diese mithilfe einiger E’s und 4-to-the-Floor-Rhythmen im Club nebenan sofort zu haben war – Raveolution statt Revolution.
Hierzulande sah es noch finsterer aus. Es war die Zeit, als Westernhagen Stadien füllte, ein neues BAP-Album ein Medienereignis war und U2 als moderne, zukunftsgewandte Formation gefeiert wurde. In diesem Sumpf der selbstverliebten, selbstzufriedenen Selbstgerechtigkeit verhieß jede Band Rettung, die Zweifel äußerte.
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Die Vertreter dieser neuen deutschen Geisteshaltung steckte man in die Schublade »Hamburger Schule«. Ein Begriff, der schon deshalb nicht stimmte, weil es – anders als bei erwähnten Stadionrockruinen – nie ums Dozieren, Belehren und Besserwissen ging. Die klugen Köpfe jener Bewegung – Frank Spilker (Die Sterne), Jochen Distelmeyer (Blumfeld) und Dirk von Lowtzow (Tocotronic) und natürlich der chronisch unterschätzte Bernd Begemann – waren zudem »Quiddjes«. Zugezogene Provinzeier aus Ostwestfalen (Bad Salzuflen) und dem Schwarzwald, die ein Leben beschrieben, in dem so manches nicht mehr passte. Obwohl man es in die Großstadt Hamburg geschafft hatte.
»Hamburger Schule« war ein Begriff, zu dem sich die Bands nur unter der Hand bekannten. Der Musikjournalist Thomas Groß hatte ihn schon 1992 in einem »Taz«-Artikel benutzt, um »Ich-Maschine«, das Debütalbum von Blumfeld und »Reformhölle«, das zweite Album von Capt. Kirk &. zu besprechen. Später räumte er ein, dass er ihn nicht erfunden, sondern aus dem Bielefelder Fanzine »What’s That Noise«, übernommen hatte. Beide Alben waren auf Alfred Hilsbergs Hamburger Indie-Label What’s So Funny About erschienen. Hilsberg lehnte den Begriff ab, während er von L’Age D’Or, dem neuen Konkurrenzlabel in der Stadt, auf dem Die Sterne erschienen, in Anzeigen verwendet wurde – natürlich betont ironisch.
Und wenn man genauer hinschaute, begann das eigentlich alles schon 1986 mit »Stand Rotes Madrid«, dem Debütalbum von Capt. Kirk &., gefolgt von »Heile Heile Boches«, der ersten Platte der Kolossalen Jugend und 1989 einer der ersten Veröffentlichungen von L’Age D’Or überhaupt. Labelmitgründer Pascal Fuhlbrügge spielte in der Band auch die Gitarre – und Kristof Schreuf sang sehr energisch fragmentarische deutsche Texte, die die 90er Jahre vorwegnahmen. Denn an die Stelle der alten Kalter-Krieg-Gewissheiten trat eine allumfassende Skepsis. An den Kommunismus glaubte nicht mal mehr die PDS.
Man hatte ja gesehen, was aus den Aufrührern von einst geworden war. Revoluzzertum fanden mittlerweile selbst die Modefuzzis schick. Im Che-Guevara-T-Shirt sahen die coolen Girlies noch cooler aus. Das konnte man von dem einstigen Straßenkämpfer Joschka Fischer nicht behaupten, dessen Gewicht sich Mitte der 90er dem von Ludwig Erhard annäherte. So hatte sich das »No more heroes anymore« der Stranglers bewahrheitet. Lieber keine Helden als solche Abziehbilder.
Desillusionierung allenthalben. Wenn Dirk von Lowtzow sang: »Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein«, dann wusste er selbst, dass dies nichts weiter war als ein frommer Wunsch. Die Einzelkämpfer der Generation Praktikum standen längst in den Startlöchern, insgeheim ahnend, dass die fetten Jahre bald vorbei sein würden. Im schlimmsten Fall würde man – wie Frank Spilker prophetisch bereits 1994, Jahre vor den Hartz IV-Gesetzen, sang – als »Universal Tellerwäscher« enden (»Ich wasche wirklich Teller, ich tu’ nicht so«).
Nicht einmal der Sex versprach Erlösung von einer Welt, die Widerstand und Rebellion nicht länger fürchtete, sondern als emotionales Chili für ihre Marketingkampagnen nutzte. »Lass uns nicht von Sex reden« (Jochen Distelmeyer) bedeutete in den 90ern etwas grundlegend anderes als in den verklemmten 50ern. Ebenso wenig hatte Distelmeyers nüchtern-ernüchtertes »Ich will kein Versprechen geben; beim Frühstück würd’ ich es brechen, ohne zu wollen« etwas gemein mit der euphorischen Hippie-Parole »Make love, not war«. Auch Letztere war längst zu einem Werbespruch verkommen – klang schön, bedeutete nichts.
Doch wie wehrt man sich gegen die Vereinnahmung durch falsche Freunde? Indem man eine Sprache benutzt, die sich dem Zugriff entzieht. Die das Plakative meidet und sich sperrig gibt. Zeilen wie »Immer Schwierigkeiten, immer gerade so zu schaffen, und so macht man sich auf Dauer halt zum Schwierigkeitenaffen, trifft befreundete Primaten in den Kneipen und im Garten – wartend auf die große Sause oder einfach nur oder besser noch, die große Pause« (Die Sterne: »Themenläden«) taugen nicht zum Mitgrölen. Sie sind zu intellektuell für den Stadionrock und zu sprunghaft-assoziativ, um als Slogans ausgeschlachtet zu werden.
Der kommerzielle Erfolg der Hamburger Schule hielt sich dann auch in Grenzen. Selbst das 1994 erschienene »L’Etat Et Moi« von Blumfeld, das als eines der wegweisenden Werke der Bewegung gilt (der englische »New Musical Express« kürte es zu einem der Alben des Jahres), schaffte es lediglich auf Platz 98. Zur gleichen Zeit holte Westernhagen mit »Affentheater« Dreifach-Platin.
Reich wurden die Hamburger Schüler nicht. Das mag erklären, warum einige sich später auch als Buchautoren versuchten. Doch die Romane von Jochen Distelmeyer (»Otis«), Frank Spilker (»Es interessiert mich nicht, aber das kann ich nicht beweisen«) und dem Toccotronic-Bassisten Jan Müller (»Vorglühen«) wirken seltsam verkatert. Es fehlt der Drive. Ohne die musikalische Untermalung klingen die klugen und altklugen Texte nur noch halb so aufregend.
Denn auch der »Diskurspop« (wie man die Musik der Hamburger Schule gern nannte) war am Ende Pop. Die Texte mochten Lethargie und Resignation verbreiten, doch Gitarre, Bass und Schlagzeug (und bei den Sternen auch die Orgel) machten Druck, preschten vor, barsten vor Energie und vor angestautem Frust, der raus musste. Jetzt und sofort. So gelang den Hamburger Schülern die Quadratur des Kreises: Sie erschufen Schlechte-Laune-Lieder, die höllisch gute Laune machten.
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