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Der Feind im eigenen Kopf
Luk Perceval inszeniert George Orwells »1984« am Berliner Ensemble
Jean-Paul Sartre schrieb einmal, der Abgrund sei ein Sog, dem wir schwer widerstehen können. Wir fürchten weniger hinunterzufallen, als uns selbst hinabzustürzen. Das Schicksal, das uns trifft, passiert nicht einfach so, sondern wir haben aktiv Teil an ihm. Darum geht es George Orwell in seinem 1949 entstandenen Roman. Wir haben Angst davor, Teil jenes Verbrechens zu werden, das wir doch fürchten. Das Böse ist nichts, auf das wir anklagend mit dem Finger zeigen könnten, wir tragen es in uns. Max Picard schrieb bereits 1946 das heute bemerkenswert unbekannte Buch »Hitler in uns selbst«. Darum geht es auch Luk Perceval in seiner Inszenierung von »1984« am Berliner Ensemble.
Denn natürlich haben sich die Koordinaten von Macht und Unterwerfung seit dem Erscheinen des Buches verändert: Damals war kalter Krieg, die Atombombe ließ Vernichtungsfantasien in neuer Qualität wuchern, der Stalinismus auf der einen und McCarthys Kommunistenhatz auf der anderen Seite gaben Vokabeln wie »Gedankenverbrechen« oder »Neusprech« einen gefährlichen Assoziationsraum innerhalb durch und durch ideologisierter Weltbilder Ost wie West. Man log auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs im Namen der Wahrheit.
Nach 1989 traten die Ideologien einen historischen Augenblick in den Hintergrund, doch nun sind sie wieder da, wenn auch sehr viel unübersichtlicher. Diese neue Unübersichtlichkeit, in der wir verloren zu gehen drohen, rückt Perceval in seiner überaus stilsicheren Inszenierung in den Vordergrund. Man könnte es auch mit dem großen russischen Autor Daniil Granin sagen, der 1999 in »Das Jahrhundert der Angst« die Frage an sich selbst richtete: »Sag mir, was du am meisten fürchtest, und ich sage dir, wer du bist.« Und er fügt hinzu: »Ein Mensch ohne Angst wäre schrecklich.«
In ihrer Dialogführung ähnelt die Inszenierung stark der Verfilmung von Michael Radford. Da spielte John Hurt den intellektuellen Mittäter wider Willen Winston Smith, der berufshalber die Geschichte Ozeaniens im Dienste des »Big Brother« tagtäglich umzulügen hat und dabei auf seinen Gegenspieler, den brutalen Funktionär des Systems O’Brien trifft. Diesen spielt Richard Burton in seiner letzten Filmrolle als eisigen Engel der Vernichtung. Der Film entstand 1984, jenem Jahr, in dem die Dystopie bei Orwell kulminiert. Totale Überwachung, totale Kontrolle in einem verwüsteten Land. Aber das auszusprechen wäre purer Selbstmord. Im Film, entstanden im Schatten des Kalten Krieges, ging es immer noch um die Gläubigkeit in geschlossenen Gesellschaften, die eigentlich längst implodiert sind und nur noch mit äußerer Gewalt aufrechterhalten werden. So etwa wie heute im Iran.
Dieses äußere Korsett wirft Perceval in seiner Inszenierung ab. Ihm geht es um das, was unsere westlichen Gesellschaften an Selbstverdrängung reproduzieren. Gibt es dort keine Macht der Macht wegen mehr? Schließlich spielt »1984« bei Orwell in London, immer wieder kommt die »Times« vor. Man war einst frei, aber nun ist man es nicht mehr. Wie konnte das passieren, dass wir die Freiheit zwar immer noch preisen, aber doch längst verloren haben? – so fragte Orwell bereits 1949.
Das ist der neuralgische Punkt, dem sich Perceval in knapp zweieinhalb Stunden widmet. Es hat fast etwas von einer »Ermittlung« im Sinne von Peter Weiss. Der erste wichtige Neuansatzpunkt der Regie: William Smith ist nicht einer, sondern mehrere. Er befindet sich im Zustand der Atomisierung, seine Persönlichkeit ist längst eine multiple: gleich vier Schauspieler sprechen seinen Text, der so jeden organischen Zusammenhang verliert. Da sind bloß noch Bruchstücke eines einstigen Sinns. Das scheint eine genuine Orwell-Lesart, heißt es doch in »1984«: »Es ist eine fabelhafte Sache, Worte zu zerstören.« In diesen Sog der Auflösung wird auch der Inquisitor des ominösen »Big Brother« O’Brien hineingezogen, er ist hier eine Stimme im Kopf, zu der kein Körper mehr gehört. Damit ist der Feind O’Brien ein Teil von William Smith geworden. Wenn er gegen diesen kämpft, dann auch gegen sich selbst.
Es sind allerdings schizophrene Verhältnisse. Der ältere graue Anzugträger mit Glatze und Brille streitet immer mit sich selbst. Paul Herwig, Gerrit Jansen, Oliver Kraushaar und Veit Schubert sind ein höchst virtuoser Chor der inneren Zerrüttung. Sie stehen im Bühnenbild von Philip Bußmann in einer V-förmigen Drehbühne, die innen verspiegelt ist, was die vier noch weiter reproduziert. Das Ich trägt die Masse in sich – oder auch umgekehrt. Eine mediale Inszenierung totalitärer Macht, in der nicht länger einer die Fäden zieht (das wäre pure Verschwörungstheorie), sondern die Unüberschaubarkeit selbst zum gefährlichen Machtträger geworden ist. Das allerdings ist etwas, das Franz Kafka bereits mit unvergleichlichem Furor vorweggenommen hat.
Großartig der minimalistische Gestus dieser Inszenierung, die nicht dämonisiert, sondern die technische Simulation von Herrschaft beim Wort nimmt. Lauter tote Seelen, wie bei Gogol, doch hier bereits von »Telemonitoren« ersetzt. Das nimmt den Gestus von Francois Truffauts »Fahrenheit 451« auf, jenem Film, der die Herrschaft des Bildes über den Text zum Thema hat: Die Feuerwehr verbrennt Bücher, denn diese (wenn sie anderes als Agitationsschriften sind), stellen eine unwägbare Verbindung von Gestern, Heute und Morgen dar, lassen keine simple Funktionalisierung im Sinne gegenwärtiger Herrschaftsideologie zu. Bücher sind per se widerständig, weil nie bloß von heute. Die geschriebenen Worte bergen eine Wahrheit, die bloßer Machtausübung (und sei sie noch so subtil) entgegensteht.
Die Frage nach dem Zerstörerischen jeder hybriden »Neusprech«-Anmaßung, die bei »1984« eine zentrale Rolle spielt, gerät in dieser Inszenierung leider etwas in den Hintergrund. Unterwerfung besorgen ganz allein die Algorithmen, die jene Daten berechnen, die wir ihnen liefern. Was für die einen der Himmel des Konformismus, ist für die anderen die Hölle der Ausgrenzung. Der kritische Bürger ist dann ein Teil jenes analogen Zeitalters von gestern, das die Digitalisierung auf den Müll zu werfen gedenkt – wie alles, was sich dem schlichten 1-0-Code der Computerwelt sperrt. Widersprüche kennt diese Welt nicht mehr, Rationalität ist nur dazu da, Abläufe zu optimieren.
Perceval zieht sich auf die Archetypik der Transformationen von Macht zurück, vielleicht etwas zu sehr, denn das Thema von Denkverboten im Namen einer Selbstermächtigung zum Guten ist für unsere Gegenwart doch ein kardinales Thema. Perceval erklärt: »Ich lese ›1984‹ als Metapher für das Menschsein.« Das klingt nun allerdings sehr allgemein, auch wenn er dann hinzufügt, heute sei es schwerer denn je zu erkennen, was überhaupt Wirklichkeit sei und was Fiktion. Da verschiebt sich der knallharte Machtreport Orwells in Richtung eines philosophischen Traktates über Wahrheit und Lüge. Das hat auch seinen Reiz, aber entwickelt sehr viel weniger Schärfe. Eine wichtige Rolle kommt für den Gesamtrhythmus der Inszenierung der Musik von Rainer Süßmilch zu: korsische Volkslieder, die die Utopie nichtentfremdeten Lebens verkörpern.
Perceval, der belgische Regisseur, sorgte lange am Hamburger Thalia Theater für Furore (auch bei den Salzburger Festspielen mit dem Shakespeare-Marathon »Schlachten«), indem er formale Zuspitzung und Reduktion des Ausdrucks so miteinander verwob, dass das Groteske am Schrecklichen zutage trat. Hier findet er einen idealen Anwendungsfall für diese Art Regie zu führen, denn Orwell verstand »1984« durchaus auch als Satire.
Das Unheil beginnt für Smith, als er sich auf eine Beziehung zu Julia (bestechend in ihrer natürlichen Klarheit: Pauline Knof) einlässt, die hier allerdings eher eine Randfigur bleibt, angesichts der vervierfachten Innenansicht von Winston Smith. Sie treffen sich heimlich, aber nicht heimlich genug, werden verhaftet, gefoltert und denunzieren sich gegenseitig. Die Liebe ist tot, noch bevor die beiden Gefolterten exekutiert sind. Bei Orwell wird Winston Smith schließlich von der »Gedankenpolizei« erschossen, nach dem im Stile von stalinistischen Schauprozessen abgepressten Bekenntnis zum »großen Bruder«. Bei Perceval darf (muss) er weiterleben.
Die beiden einstmals Liebenden, nun innerlich völlig abgetötet, treffen nochmals aufeinander. Das ist noch schlimmer, als lägen sie längst ausgelöscht unter der Erde. Man wird sich wiedersehen, gewiss. Perceval will nicht alle Hoffnung fahren lassen. Aber klingt der triste Abschied wie ein echtes Versprechen, es noch einmal zu versuchen?
Nächste Vorstellungen: 28.11., 29.11., 2.12., 3.12., 16.12.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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