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Autorin Elena Chouzouri: Die Wahrheit hinter dem Schweigen
Elena Chouzouri erinnert in ihrem neuen Roman an das Schicksal der Juden von Thessaloniki unter der NS-Herrschaft
Elena Chouzouri, Ihr Roman, 2016 auf Griechisch erschienen und nun ins Deutsche übersetzt, ist sehr vielschichtig, befasst sich mit der Vernichtung der jüdischen Gemeinde in Thessaloniki, dem Grauen der deutschen Besatzer, widmet sich aber auch dem jüdischen Widerstand in den Bergen sowie dem Bürgerkrieg nach der Befreiung und dessen Auswirkungen bis in unsere Tage. Welcher Aspekt ist Ihnen der wichtigste im Roman?
Das Interessanteste war für mich, wie die Jüdische Gemeinde in Thessaloniki vor dem Holocaust lebte. Aber der Holocaust hat mich natürlich ungeheuer schockiert. Ich bin keine Jüdin, aber um das zu verstehen, um die Psychologie der Menschen zu begreifen, das hat mich sehr viel Kraft gekostet.
Der Roman wirkt wie ein Gleichnis auf die Unglückseligkeit des Menschen. Nicht nur deutsche Soldaten, Bürokraten und Befehlshaber wurden zu Tätern, sondern auch zivile Profiteure in Griechenland, die sich am Besitz von Juden bereicherten. Der Titel des Romans »Onkel Avraam bleibt für immer hier« erinnert an den großen Idealisten und Gründer der Sozialistischen Arbeiterföderation, Avraam Benaroya. Im Roman taucht er jedoch nur am Rande auf. Warum?
Der Titel hat drei Bedeutungen. Zum einen gibt es den Abraham aus der Bibel, der der Stammvater des jüdischen Volkes ist. Dann ist da Avraam Benaroya, in Thessaloniki geborener großer Idealist, Anarchist, Sozialist, Mitbegründer der kommunistischen Partei Griechenlands …
Die griechische Schriftstellerin Elena Chouzouri, 1952 in Thessaloniki geboren, kommt zu zwei Lesungen nach Deutschland. In Leipzig (30.11.) und Berlin (1.12.) stellt sie ihren Roman »Onkel Avraam bleibt für immer hier« vor. Darin geht es um das Schicksal der griechischen Juden sephardischer Herkunft in Thessaloniki, seit 1493 in der Stadt ansässig. Als »Jerusalem des Balkans« wurde die Stadt einst bezeichnet. Deutsche Besatzungssoldaten machten damit Schluss. Auf dem jüdischen Friedhof in Athen ist die Zahl der ermordeten Juden unter der deutschen Besatzung in Thessaloniki genannt: 56 000, das waren 96 Prozent der jüdischen Gemeinde. Stefan Berkholz sprach mit ihr in Athen.
Der aber nicht linientreu war. Er geriet auch unter Genossen in Gefahr.
Ja, er war nicht linientreu und wurde aus der Partei ausgeschlossen. Unter der Nazi-Okkupation wurde er als Jude und Kommunist ins KZ Bergen-Belsen verschleppt. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die griechischen Kommunisten verfolgt, diesmal von den eigenen Landsleuten, den Obristen. Benaroya, der seit Beginn des 20. Jahrhunderts eng befreundet war mit David Ben-Gurion, dem späteren Mitbegründer des jüdischen Staates, ging Anfang der 50er Jahre nach Israel. Verarmt starb er dort 1979 mit 92 Jahren.
Welche Rolle spielt dieser Benaroya in Ihrem Roman?
Diese historische Figur war für mich der Schlüssel zur Geschichte. Denn Alisa, die Studentin und Hauptfigur meines Romans, schreibt eine Doktorarbeit über diesen Avraam Benaroya. Sie begibt sich von Israel auf die Suche nach ihrem Onkel, eben diesem Avraam Benaroya, nach Thessaloniki. Und nach und nach deckt sie die Wahrheit hinter dem Schweigen auf.
Das wird zur spannenden Spurensuche, denn vieles ist verschwunden und vernichtet, die Straßennamen sind verändert, die Orte plattgemacht, ein großes Schweigen liegt über den Verbrechen. Und die dritte Bedeutung?
Die ist mir die wichtigste. Die Geschichte der Juden von Thessaloniki wird immer bleiben. Das, was passiert ist, ist für immer in der Geschichte Thessalonikis festgeschrieben. Onkel Abraham wird also immer dort leben.
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So etwas wie ein Symbol für Thessalonikis untergegangenen Geist?
Wenn Sie so wollen, ja.
Sie selbst sind 1952 in Thessaloniki geboren, haben lange Jahre als Journalistin gearbeitet, betreuten Büchersendungen im Fernsehen. Mittlerweile haben Sie mehrere Gedichtbände, Essays und fünf Romane veröffentlicht. Vor allem historische Stoffe.
Ja, zum Beispiel »Dunkler Vardar«, ein Roman, der in einer gewissen Beziehung zu »Onkel Avraam« steht. Eine Geschichte rund um Thessaloniki bis 1912, seinerzeit also noch unter osmanischer Herrschaft. In »Dunkler Vardar« geht es um jene Menschen, deren Leben aufgrund der Balkankriege radikal umgestülpt wurde. Die Themen in diesem Roman sind also auch: Vertreibung, Flucht, Verlust, Kriegsfolgen. Und »Onkel Avraam« setzt auf eine gewisse Weise daran an, denn der Roman beginnt 1912.
2014 erschien in Deutschland Ihr Roman »Die lügnerische Sonne der Kinder«. Eine Geschichte über Migration und Heimat.
Der Originaltitel lautet: »Heimat aus Baumwolle«. Es geht um die Helden im Befreiungskrieg, die in der demokratischen Armee kämpften, also nach dem Zweiten Weltkrieg. Im August 1949 von den Engländern besiegt, mussten die griechischen Soldaten nach Albanien fliehen. 12 000 gelangten nach Taschkent in die Sowjetunion. Dort entstand die größte Exilgemeinde von politischen Flüchtlingen. Sie waren rechtlos, hatten keine Ausweise, mussten sich assimilieren. Sie hatten in Usbekistan mit seiner Baumwollproduktion eine friedliche Heimat gefunden, blieben aber Fremde.
Gibt es darin autobiografische Bezüge?
Ja, das Buch basiert auf der Geschichte meines Onkels, der Arzt bei der demokratischen Armee gewesen ist. Nach 1974 kamen viele dieser Exilierten nach Griechenland zurück. Und die Frage war dann: Was ist Heimat? Sie sprachen und sprechen untereinander noch russisch, sie sehen russisches Fernsehen und wählen natürlich auch die kommunistische Partei, die KKE.
Elena Chouzouri: Onkel Avraam bleibt für immer hier. A. d. Griech. v. Michaela Prinzinger. Verlag der Griechenland-Zeitung, 214 S., geb., 19,80 €.
Buchvorstellung mit der Autorin am 30.11. in Leipzig, Kultur- und Begegnungszentrum Ariowitsch-Haus, Hinrichsenstraße 14, 19 Uhr und am 1.12. in Berlin, Freie Universität, Habelschwerdter Allee 45 in Dahlem, 19 Uhr.
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