Von Kalmaren und Menschen: »Weil da war etwas im Wasser«

Beim Debüt »Weil da war etwas im Wasser« des Autors Luca Kieser handelt es sich um ein verwegenes Stück Literatur

  • Michael Wolf
  • Lesedauer: 4 Min.
Im Buch erklärt ein Biologe, Kalmare und Menschen hätten einen gemeinsamen Vorfahren.
Im Buch erklärt ein Biologe, Kalmare und Menschen hätten einen gemeinsamen Vorfahren.

Es verbietet sich für gewöhnlich, den Schluss eines Buchs zu verraten. In diesem Falle aber ist es wohl legitim, will dieser Roman doch ohnehin nicht von der ersten bis zur letzten Seite durchgelesen werden kann. In Fußnoten wird immer wieder dazu geraten, an anderer Stelle fortzufahren. Außerdem entzieht sich die Handlung dramaturgischen Standards. Kommen wir also gleich zum Nicht-Schluss und zu der dort beschriebenen Szene, in der eine Figur, die »unser junger Autor« heißt und gewisse Ähnlichkeiten mit Luca Kieser besitzt, also dem ganz tatsächlichen Autor des Buchs »Weil da war etwas im Wasser«, seinen Penis in ein Glas kalten Kamillentee hängt.

Der Penis wurde zuvor in einer Operation beschnitten, zwecks Erlösung von langjährigen Schmerzen beim Sex, ein sogenannter »spanischer Kragen« lag vor, Genaueres lässt sich ergoogeln. Bei der Nachsorge der Wunde jedenfalls wird dem jungen Autor plötzlich schwarz vor Augen, er stürzt aus dem Fenster und landet unversehens im Meer, genauer in jener Meerenge, an der Odysseus einst dem Ungeheuer Skylla begegnete. Hier trifft der junge Mann auf einen Riesenkalmar, der sich zurückgezogen hat, um seine eigene Wunde heilen zu lassen, die er sich beim Angriff auf ein Schiff zuzog. Nun umschwärmen die Arme des Kalmars den jungen Autor, der sich selbst in einen Kalmar zu verwandeln scheint. Er versprüht jedenfalls seine Tinte und der Kalmar malt damit eifrig Zeichen ins Wasser.

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Manches spricht dafür, dass er jene Geschichten formuliert, die auf den vorherigen Seiten erzählt wurden. Von den Armen des Kalmars nämlich, die verschiedene Namen tragen – sie heißen »Der Arme Arm«, »Der Eingebildete Arm« oder »Der Bisschen-Schüchterne Arm« – und auch in ihren Ansichten sehr individuell sind. Immer wieder unterbrechen sie einander und reißen das Wort an sich.

Was ist denn hier los? Im Debüt des 1992 in Tübingen geborenen Autors ergibt vieles auf eine frivole Weise wenig Sinn, anderes ist dagegen, wenn nicht logisch, so doch poetologisch durchaus begründbar. Die Arme des Kalmars können sich deshalb zum Erzähler dieser Geschichte aufschwingen, weil sie auf den ersten Seiten auf ein Tiefseekabel stießen, mit dessen Informationsstrom sie sich begeistert kurzschlossen. Von da an plappern sie wild drauf los, erzählen von Jules Verne und Kapitän Nemo, von der Genese des Blockbusters »Der weiße Hai« und von der Erfindung des Konzepts Nachhaltigkeit im Deutschen Wald des 18. Jahrhunderts. Vor allem aber entfalten sie eine sich über 200 Jahre erstreckende Familiengeschichte, die das Gros der auftretenden menschlichen Protagonisten verbindet.

Eine junge Frau absolviert ein Praktikum auf einem Trawler, tritt in Kontakt zu einem gefangenen Kalmar und setzt ihn wieder frei. Hilfe erhält sie von einer Agentin des deutschen Nachrichtendienstes, die düsteren Erinnerungen an ihre Kindheit nachhängt. Die beiden sind, genau wie der Reeder des Trawlers, entfernt miteinander verwandt. Ihr gemeinsamer Vorfahr hat einst als Matrose auf einem Schiff gegen einen Kalmar gekämpft. Seither verbindet die Familie eine spezielle Beziehung zum Meer. Die einen fürchten sich vor der See, die anderen fühlen sich unerklärlich zu ihr hingezogen.

Etwas scheint unabgeschlossen zu sein, die Begegnung des Ahnen mit dem Kalmar hat eine biografische, vielleicht gar anthropologische Lücke hinterlassen, die dieser Roman zu schließen versucht. Es handelt sich bei »Weil da war etwas im Wasser«, so viel ist sicher, um ein verwegenes Stück Literatur. Das Buch fällt auf erfreuliche Weise aus der Flut all der stilistisch einwandfrei verfassten, halb biografischen und viertelspannenden Debüts heraus, die im Halbjahrestakt auf den Markt kommen. Hier hat sich jemand tatsächlich mal ein ehrgeiziges Ziel gesetzt. Nur welches bloß? Erst auf Seite 96 bekommt man eine Ahnung. Da erklärt ein Biologe, Kalmare und Menschen hätten einen gemeinsamen Vorfahren, doch an einem Punkt in der Evolution sei man unterschiedlich abgebogen. Die Wirbeltiere, und somit später auch die Menschen, hätten alles darangesetzt, sich die Welt einzuverleiben, während sich die Wirbellosen, und damit auch die Kalmare, vielmehr nach außen hin zur Welt umgestülpt hätten.

Die familiären Verwicklungen der Figuren sind mithin eine Spiegelung der evolutionären. Und wenn der nunmehr vorhautlose junge Autor sich mit dem Kalmar vereinigt, dann gibt er stellvertretend für eine ganze Gattung sein Innerstes preis und wird mit einer Verwandlung belohnt. Die menschliche Hybris findet sich nur selten so glücklich in ihr Gegenteil verkehrt wie hier. Diesem jungen Autor da auf dem Meeresgrund ist es völlig gleich, dass die Realität dem Menschen keine Metamorphosen gestattet, er zieht es einfach trotzdem durch. Da schlägt einer der Biologie also mit den Mitteln der Literatur fröhlich ein Schnippchen. Wenn schon kein Ende, dann ist das mit Sicherheit eines der originellsten Happy Ends dieser Saison.

Luca Kieser: Weil da war etwas im Wasser. Picus-Verlag, 320 S., geb., 26 €.

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