- Politik
- Polen
»Die Wahl ist ein europäischer Frühling im Oktober«
Rolf Nikel über die Bedeutung des sich anbahnenden Regierungswechsels in Warschau für die deutsch-polnischen Beziehungen
Herr Nikel, als Diplomat haben Sie viele Länder bereist. Wenn Sie an Ihre Zeit als Botschafter in Polen zurückdenken, gibt es eine bestimmte Begegnung oder Situation, die Ihr Verständnis für die deutsch-polnischen Beziehungen geprägt hat?
Es gab viele Begegnungen, die mein Bild über Polen geprägt haben. Für mich wichtige Momente waren die Begegnungen mit Überlebenden des Holocaust. Es haben sich zum Teil freundschaftliche Gespräche ergeben, ganz im Gegensatz zu den öffentlich gelenkten Kommentaren, die dieses Verhältnis schlecht geredet haben. Da gab es bewegende Momente, die mein Verständnis für Polen im Blick auf das, was den Menschen wichtig ist, geschärft haben.
Die Parlamentswahl in Polen am 15. Oktober wird sich wahrscheinlich auch auf die deutsch-polnischen Beziehungen auswirken. War die Wahl ähnlich wichtig wie das Brexit-Referendum 2016?
Durch den Ausgang der Parlamentswahl im Oktober erhofft sich Rolf Nikel eine Verbesserung der deutsch-polnischen Beziehungen. Nikel war von 2014 bis 2020 deutscher Botschafter in Polen. Im Interview spricht er über die Vorbehalte in Polen gegenüber Deutschland, den bevorstehenden Regierungswechsel und Visionen für eine Zukunft der zivilgesellschaftlichen wie wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern.
Diese Wahl war aus meiner Sicht die wichtigste in Polen seit der Wende 1989. Aber nicht nur das: Sie war in diesem Jahr die wichtigste Wahl in Europa. Das Ergebnis ist eine frische Brise, ein europäischer Frühling mitten im Oktober. Auch wenn ich die weiteren Herausforderungen in den Beziehungen Polens zu Deutschland und zu Europa nicht unterschätze, glaube ich doch, dass sich durch diesen Wahlausgang Möglichkeiten ergeben, Europa und die deutsch-polnischen Beziehungen voranzubringen.
Was zeigt das Wahlergebnis über die Einstellung der Polinnen und Polen?
Polen hat Europa – wie schon 1989 – den Weg gewiesen, wie man eine populistische Regierung wieder los wird und wie man eine Wahl auch gegen unfaire Bedingungen, die sich in der Wahlkampagne deutlich gezeigt haben, gewinnen kann. Das unterstreicht das polnische Streben nach Freiheit und die große Mobilisierung dafür.
Die drei Mitte-links-Parteien haben inzwischen einen Koalitionsvertrag unterzeichnet. Wie stabil wird diese Regierung sein?
Da hat sich ein breites Bündnis zusammengefunden − von sozialdemokratischen bis konservativen ideologischen Prägungen. Wenn die bisherigen Oppositionsparteien als Bündnis ins Amt kommen, wird es sicherlich nicht einfach sein, diese Koalition über einen längeren Zeitraum zusammenzuhalten. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass alle Teile dieses Bündnisses die Bedeutung sehen, die in dieser neuen Konstellation liegt.
Ein erster Erfolg für die Opposition war, dass der pro-europäische Kandidat Szymon Holownia zum Präsident des Parlaments – zum Sejmmarschall – gewählt wurde. Ist dieses Ergebnis ein Indikator für die Einigkeit der Opposition?
Auf jeden Fall. Das Interessante ist, dass Holownia mit mehr Stimmen gewählt wurde, als dieses neue Regierungsbündnis Sitze im Parlament hat. Das Abstimmungsergebnis war sogar relativ nah an der 3/5-Mehrheit, die nötig wäre, um ein Veto des Präsidenten Andrzej Duda von der bisherigen Regierungspartei PiS im Gesetzgebungsprozess zu überstimmen. Da ist wahrscheinlich der eine oder andere etwas nervös geworden.
Welche politischen Vorhaben erwarten Sie von der neuen Regierung?
Der Koalitionsvertrag ist mit 13 Seiten sehr allgemein gehalten. Zum Vergleich: der deutsche Koalitionsvertrag hat 177 Seiten. Darin zeigt sich, dass es zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht einfach ist, die verschiedenen Strömungen innerhalb dieses Bündnisses zusammenzubringen. Aber ich glaube, dass jetzt ein frischer Wind in die Politik kommt. Ich hoffe, dass dieser die Polarisierung, die die polnische Gesellschaft in den letzten Jahren charakterisiert hat, umkehren kann. Außerdem hoffe ich auf eine Verbesserung der deutsch-polnischen Beziehungen. Ich bin optimistisch, dass zumindest das Klima besser wird.
Allerdings ist der Machtwechsel noch nicht vollzogen. Der amtierende Präsident Duda hat den bisherigen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki von der PiS-Partei mit der Regierungsbildung beauftragt. Dieser Prozess wird voraussichtlich Wochen dauern, da die PiS keine Mehrheit im Parlament hat, vorausgesetzt die Oppositionsparteien halten zusammen. Duda hatte zudem die konstituierende Sitzung des neuen Parlaments fast einen Monat später – auf den 13. November terminiert. Was könnte Dudas Absicht hinter dieser Verzögerung sein?
Der polnische Präsident konnte sich darauf stützen, dass die PiS die stärkste Einzelfraktion im Sejm geworden ist. Zum Zeitpunkt, als er angekündigt hat, Morawiecki als Kandidaten für das Ministerpräsidentenamt zu ernennen, hatte die Regierung ihren Koalitionsvertrag noch nicht in trockenen Tüchern. Wir sollten jetzt nicht drängeln und der polnischen Politik Zeit geben, sich zu sortieren und den Übergang zu gestalten.
Und dann? Angenommen, der liberal-konservative Donald Tusk wird der nächste Ministerpräsident Polens – welche Rolle wird die PiS in der Opposition einnehmen?
Teller und Rand ist der nd.Podcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Wenn man Wahlen verliert, dann gibt es Diskussionen, wer dafür verantwortlich ist. Wichtig ist zu bedenken, dass es über sieben Millionen Polinnen und Polen gibt, die PiS gewählt haben. Das ist für die deutsch-polnische Beziehung wichtig. Auch diese Leute sollten davon überzeugt werden, wie wichtig die deutsch-polnischen Beziehungen sind, und es sollte versucht werden, sie, so weit es irgendwie geht, mitzunehmen.
Haben Sie die antideutsche Rhetorik der PiS-Partei während ihres Aufenthalts in Polen miterlebt?
Ich bin häufig ins Außenministerium einbestellt worden, was für den Botschafter eines Partnerlandes und eines alliierten, in freundschaftlicher Nachbarschaft verbundenen Staates eher selten ist. Und ich habe mich oft negativen Kampagnen in den sozialen Medien gegenüber gesehen. Wir haben immer versucht, Politik mit allen gesellschaftlichen Gruppen zu machen. Die deutsch-polnischen Beziehungen sind insgesamt, trotz allem, in einem guten Zustand. Vor allem, weil die beiden fundamentalen Stützen der Beziehungen, die zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit – mit Städtepartnerschaften, Universitäts-Kooperationen oder deutsch-polnischen Gesellschaften – sowie die wirtschaftliche Kooperation so gut funktionieren. Die deutsch-polnischen Beziehungen sind wesentlich besser als ihr Ruf. Aber es stimmt schon: Die antideutsche Propaganda in den staatlich gelenkten Medien hat zu Schwierigkeiten geführt. Die Zustimmung zu Deutschland ist laut dem deutsch-polnischen Barometer in den letzten Jahren zurückgegangen. Sie ist immer noch recht positiv, aber sie war mal bei über 70 Prozent. Aktuell liegt die Zustimmung knapp unter 50 Prozent.
Die PiS hat oft auf Deutschlands Vergangenheit verwiesen und betont, dass die Leiden und Opfer Polens im Zweiten Weltkrieg nicht ausreichend anerkannt werden. Ist diese Kritik berechtigt?
Da muss man unterscheiden. Auf der einen Seite gibt es selbstverständlich eine moralische Verantwortung für das, was von deutscher Hand und in deutschem Namen im Zweiten Weltkrieg geschehen ist. Das steht außer Frage. Polen war das erste Opfer des Nazi-Terrors und Polen hat unglaublich unter der deutschen Besatzung gelitten. Auf der anderen Seite gibt es rechtliche Regelungen, dass Entschädigungsforderungen geschlossen sind, aus vielerlei Gründen. Unabhängig von dieser rechtlichen Frage, ist es aus meiner Sicht wichtig, dass Deutschland weiter bereit ist, freiwillige Leistungen und freiwillige humanitäre Gesten zu leisten. Das geschah schon 1991 mit der Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung, mit der Zwangsarbeiter-Entschädigung 2003/2004, und ich selbst habe als Botschafter 2014 das sogenannte Ghetto-Renten-Abkommen unterschrieben. In der Vergangenheit hat es also immer wieder freiwillige finanzielle Leistungen gegeben. Es wäre notwendig und sinnvoll, weitere derartige Gesten ins Auge zu fassen. Außerdem hat der Deutsche Bundestag im Oktober 2020 die Errichtung eines Ortes des Erinnerns und der Begegnung mit Polen mandatiert: das Deutsch-Polnische Haus. Dieses Projekt sollte jetzt schnell umgesetzt werden.
Eine weitere Kritik von polnischer Seite ist, dass Deutsche sich oft paternalistisch gegenüber Polinnen und Polen verhalten. Was steckt hinter dieser Wahrnehmung?
Wir stehen in einer gewissen Asymmetrie im Verhältnis zueinander, das ist schon herausfordernd. Deutschland ist das wirtschaftlich stärkste und bevölkerungsreichste Land in Europa. Man muss schauen, wie wir mit diesen objektiven Fakten umgehen. In der Vergangenheit ist es in der Tat so gewesen, dass einige von uns sich arrogant verhalten haben. Wir glaubten, aus unserer Erfahrung vieles besser zu wissen. Jetzt stellen wir fest, dass Polen etwa in seiner Einschätzung zum Osten richtig gelegen hat. Deutschland hingegen hat in seiner Ost- und Energiesicherheitspolitik schwere Fehler gemacht. Daraus ergibt sich eine gewisse Veränderung in der Perzeption. Und hinzu kommt wegen des Ukraine-Kriegs eine geografische Verlagerung des Interesses Richtung Osten. Die Nato wird nördlicher, hat mehr Truppen auf der Ostflanke stationiert. Ob das zu einer tatsächlichen Stärkung von Macht und Einfluss führt, wird sich zeigen.
Wirkt sich der Ukraine-Krieg auch auf das deutsch-polnische Verhältnis aus?
Der Ukraine-Krieg hat die Notwendigkeit, die Ukraine zu unterstützen, in den Vordergrund gerückt. Deutschland hat am Anfang sehr zurückhaltend in der Frage der militärischen Unterstützung gehandelt. Mittlerweile ist Deutschland in absoluten Zahlen der größte Geber militärischer Unterstützung in Europa. Das ist ein wichtiger Schritt, auch auf Polen zu, das eine starke Unterstützung immer wieder gefordert hat. Auch wenn dieser Weg in Deutschland zuweilen langsam und mit innenpolitischen Dramen beschritten wird, könnte durch diese Entwicklung ein neues Momentum entstehen, dass wir für die deutsch-polnischen Beziehungen nutzen sollten.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.