Pisa-Studie: Immer mehr Schüler fallen zurück

Die neue Pisa-Studie stellt dem deutschen Bildungssystem ein miserables Zeugnis aus

Die Motivation der Schüler für Mathematik und den Naturwissenschaften hat zuletzt nachgelassen.
Die Motivation der Schüler für Mathematik und den Naturwissenschaften hat zuletzt nachgelassen.

Die Veröffentlichung der neuen Pisa-Studie würde zu Entsetzen führen, das war den Bildungsforschern bewusst. Entsprechend herrschte am Dienstag im Haus der Bundespressekonferenz in Berlin eine besondere Anspannung. Die Pisa-Studie stellt so etwas wie ein Zeugnis für die Bildungspolitik aus, sie ist ein internationaler Vergleich von Kompetenzen, die Schüler erworben haben. »Die 15-jährigen Schülerinnen und Schüler haben dabei so schlecht wie noch nie abgeschnitten«, erklärte Francesco Avvisati, Bildungsexperte der OECD, die die Durchführung der Studie in 81 Ländern koordiniert.

Das »Programme for International Student Assessment« (Pisa) untersucht alle drei Jahre, wie gut Schüler grundlegende Kompetenzen in Alltagssituationen anwenden können. Dabei geht es nicht darum, auswendig Gelerntes abzufragen. Untersucht wurden im vergangenen Jahr die Bereiche Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen. Bei der Erhebung wurde im Durchschnitt der 37 OECD-Länder ein beispielloser Rückgang der Schülerleistungen festgestellt. Verglichen mit 2018 sank der Leistungsdurchschnitt in Lesekompetenz um 10 Punkte und in Mathematik um fast 15 Punkte.

Besonders gravierend sind die Leistungseinbrüche aber in Deutschland. Bislang rangierte das Land in den Studien oberhalb des OECD-Durchschnitts, bei der Erhebung, die im Frühjahr 2022 bei 6100 Schülern in Deutschland durchgeführt wurde, sind die Kompetenzen in Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen jedoch erheblich gesunken.

Grund zur Sorge bereitet Avvisati vor allem der hohe Anteil jener Schüler, die nur geringe Kompetenzen in den drei untersuchten Bereichen aufweisen können und zusätzliche Förderung dringend benötigen, um eine berufliche oder weitere schulische Ausbildung bestehen zu können. In Mathematik beträgt ihr Anteil rund 30 Prozent, im Lesen rund 26 Prozent und in Naturwissenschaften rund 23 Prozent. Aber auch die Kompetenzen der besonders leistungsstarken Schüler sind in den Bereichen Mathematik und Lesen gesunken, in den Naturwissenschaften sind sie so geblieben. Bereits seit 2016 gebe es in Deutschland einen negativen Trend bei den Pisa-Erhebungen, sagte Avvisati. Jetzt habe der sich noch einmal beschleunigt.

Ein Grund für diese negative Entwicklung liege in den Schulschließungen während der Corona-Pandemie, da sind sich die Bildungsexperten einig. Im internationalen Vergleich seien die deutschen Schulen nicht gut auf die Situation vorbereitet gewesen, erklärte Doris Lewalter, Bildungsforscherin der Technischen Universität München, die für die Durchführung der Erhebung in Deutschland zuständig war. Es fehlten vor allem zu Beginn der Pandemie Digitalgeräte. Zudem hätten weniger als die Hälfte der leistungsschwächeren Schüler an Förderungen teilgenommen. Vielerorts gibt es keine Angebote dafür, weil die Lehrkräfte fehlen.

Allerdings lässt die Pisa-Erhebung keinen systematischen Zusammenhang zwischen der Dauer der Schulschließungen und den Leistungsrückgängen in den vergangenen Jahren erkennen. Es gibt sowohl Länder mit relativ wenigen Schließtagen, die deutlich schlechtere Ergebnisse vorweisen, als auch Staaten mit einem umfassenden Lockdown an den Schulen, der nicht zu einem Leistungseinbruch bei Schülern geführt hat.

Wohl aber spiele in Deutschland noch immer die Herkunft eine große Rolle beim Kompetenzerwerb in der Schule, betonte Lewalter. »Der Zusammenhang von sozioökonomischem Status der Familien wie auch ihrem Zuwanderungshintergrund ist weiterhin stark ausgeprägt.« Die Schulen seien durch die Migration nach Deutschland in den vergangenen Jahren insgesamt deutlich heterogener geworden, bundesweit betrage die Migrationsrate an den Schulen inzwischen 39 Prozent. »Aber die Gesamtergebnisse werden durch diesen Befund nur zum Teil erklärt«, betonte Lewalter.

Erhellend sei ein Blick auf die Aussagen der Schüler bezüglich ihrer Motivation und Einstellung. Daraus ergebe sich, dass die Jugendlichen im Vergleich zum Jahr 2012 weniger Freude und Interesse an dem Fach Mathematik haben. Zugenommen habe dagegen die Ängstlichkeit gegenüber dem Fach. Zudem sehen die 15-Jährigen weniger Nutzen darin, Mathe zu erlernen, weil ihnen das Fach nur wenig lebensnah erscheine. »Die Ergebnisse zeigen außerdem, dass sich die Schüler und Schülerinnen weniger durch ihre Mathematiklehrkraft unterstützt fühlen.«

Um die Situation gezielt zu verbessern, empfiehlt Lewalter eine systematische Förderung der Sprach- und Lesekompetenz schon von der Vorschule an. Ein besonderer Blick müsse außerdem auf die sozioökonomisch Benachteiligten und Zugewanderten gelegt werden. Zudem müsse die Lehre beständig weiterentwickelt werden und der Unterricht an die Lebensrealitäten der Jugendlichen angepasst werden.

Diese Aspekte hat auch Jens Brandenburg, Staatssekretär im Bundesbildungsministerium, im Blick. Er verwies bei der Pressekonferenz auf das Startchancen-Programm, mit dem Bund und Länder 4000 Schulen fördern wollen, an denen besonders viele benachteiligte Kinder und Jugendliche unterrichtet werden. Das Programm sei auf zehn Jahre ausgelegt. »Details darüber werden in den Verwaltungsvereinbarungen mit den Ländern abgestimmt.« Brandenburg ist zuversichtlich, dass das Programm wie angedacht zum Beginn des Schuljahres 2024/25 starten kann. »Ein solches Programm ist nötiger denn je«, sagte er angesichts der Pisa-Befunde.

SPD-Chefin Saskia Esken hat als Konsequenz aus den Pisa-Resultaten eine Verfünffachung des geplanten Startchancenprogramms zur Förderung von Brennpunktschulen gefordert. »Die katastrophalen Pisa-Ergebnisse bestätigen erneut den dringenden Handlungsbedarf«, sagte Esken am Dienstag der »Stuttgarter Zeitung«. Es sei nicht ausreichend, mit dem Startschancenprogramm nur zehn Prozent der Schulen zu erreichen. Der Umfang des Programms auf Bundes- und Landesebene müsse deshalb »mindestens verfünffacht« werden.

Auch die CDU-Bundesvize und Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien hat zu mehr Investitionen in Bildung aufgerufen. »Wir brauchen ein neues Selbstverständnis«, sagte sie der Deutschen Presse-Agentur. »Deutschland muss den Weg vom Sozialstaat zum sozialen Bildungsstaat einschlagen. Wir müssen – über alle Altersstufen hinweg – Bildung in den Haushalten von Bund und Ländern priorisieren.« Das gelte bei der frühkindlichen Bildung, Schulbildung, Aus-, Fort und Weiterbildung aber genauso auch bei der Grundlagen- und Spitzenforschung. Deutschland habe sich über Jahrzehnte in ideologischen Debatten über das Schulsystem verheddert, sei spät in der Digitalisierung gewesen und schaffe es nicht, genügend qualifiziertes Personal an seine Schulen zu bekommen.

Die Gewerkschaft Bildung und Erziehung (GEW) forderte einen Masterplan gegen Bildungsarmut und soziale Ungerechtigkeit. »Die Pisa-Ergebnisse sind für die Lebens- und Berufschancen vieler Schülerinnen und Schüler sehr problematisch, für die Schulpolitik beschämend«, sagte Anja Bensinger-Stolze, GEW-Vorstandsmitglied. »Deutschland hat seit Jahrzehnten sowohl ein Leistungs- als auch ein eklatantes Gerechtigkeitsproblem.«

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