- Politik
- Landesverfassung
Sachsens CDU steht auf die Bremse
Die sächsische Landesverfassung soll geändert werden. Stark kritisierte Schuldenregeln aber bleiben
Selbst der Chef hatte öffentlich gezweifelt. Im August zeigte sich Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) skeptisch, dass es in dieser Wahlperiode zu Änderungen in der Verfassung kommt. Die hatten sich CDU, Grüne und SPD in ihrem 2019 geschlossenen Koalitionsvertrag eigentlich fest vorgenommen. Unter anderem sollten Hürden für Bürgerbeteiligung gesenkt und der Klimaschutz mit Verfassungsrang versehen werden. Doch die Gespräche waren seit Jahren fruchtlos geblieben, und in diesem Spätsommer sah es nicht mehr so aus, als ob sich das Regierungslager auf ein gemeinsames Paket einigen könnte. Kretschmer nannte das eine »verpasste Chance«. Für Korrekturen an der Landesverfassung braucht es eine Zweidrittelmehrheit, und aktuell deuten Umfragen darauf hin, dass es diese ab Herbst 2024 ohne die AfD nicht mehr geben wird.
An diesem Donnerstag indes belehrten die Koalitionäre den Regierungschef eines Besseren. Sie brachten einen Gesetzentwurf in den Landtag ein, mit dem die größte Reform der Verfassung seit 1992 in Angriff genommen wird; ein Superlativ, der insofern nicht überrascht, als es zuvor nur eine Korrektur gegeben hatte. 2013 war ein Neuverschuldungsverbot in Artikel 95 aufgenommen worden. Für die nötige Mehrheit sorgten neben Abgeordneten von CDU, SPD und den damals noch oppositionellen Grünen auch elf Mitglieder der Linksfraktion, elf andere stimmten dagegen. Die Befürworter, zu denen auch Fraktionschef Rico Gebhardt gehörte, hielten sich zugute, auch das Prinzip eines »sozialen Ausgleichs« bei der Aufstellung des Etats durchgesetzt zu haben.
Zehn Jahre später ist die in Sachsen besonders strikte Schuldenbremse vielen ein Dorn im Auge, und zwar lagerübergreifend. Gebhardt, der heute von einer »Investitionsbremse« spricht, verweist auf Erfahrungen aus der Corona-Pandemie, als der Freistaat für Hilfspakete sechs Milliarden Euro an Krediten aufnahm, die er den strengen sächsischen Regeln zufolge freilich binnen acht Jahren tilgen müsste. Grünen-Fraktionschefin Franziska Schubert sagte 2021, die Schuldenbremse habe den »Praxistest« nicht bestanden, ihr SPD-Kollege Dirk Panter sprach von einer »Wegfahrsperre«. Auch der DGB und Wirtschaftswissenschaftler fordern die Abschaffung.
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
Mit dem jetzt vorliegenden Paket will die Koalition sieben Artikel der Verfassung ändern; Artikel 95 allerdings bleibt unangetastet, weil die Schuldenbremse für die CDU-Fraktion eine heilige Kuh ist. Auch weil dieser »ganz wichtige Punkt« fehle, kritisiert Gebhardt, das Regierungsbündnis habe die »Chance zu einer tatsächlich notwendigen Verfassungsänderung sang- und klanglos verstreichen lassen«. Zugleich räumt er ein, dass frühere Forderungen der Linken berücksichtigt worden seien. Das dürfte die Chancen auf Zustimmung aus deren Reihen erhöhen.
Das trifft etwa auf abgesenkte Hürden für die Bürgerbeteiligung zu. In Sachsen braucht es bisher 40 000 Unterschriften für einen erfolgreichen Volksantrag; ein Volksbegehren, mit dem Gesetze durchgesetzt werden können, wird erst durchgeführt, wenn 450 000 Bürger dafür unterschrieben haben. Das entspricht aktuell knapp 14 Prozent der Stimmberechtigten. In Sachsen war erst ein Volksbegehren erfolgreich, das im Jahr 2000 den Erhalt kommunaler Sparkassen forderte. Drei Anläufe, eines gegen Schulschließungen, eines für ein geändertes Schulgesetz und eines für die Aufnahme sozialer Grundrechte in die Verfassung, scheiterten zwischen 1995 und 2003. Seither gab es keine Versuche mehr.
Künftig soll ein Volksantrag die Unterstützung von nur noch 0,6 Prozent der Wahlberechtigten benötigen, aktuell knapp 20 000. Beim Volksbegehren wären es sechs Prozent, also 200 000. Für den folgenden Volksentscheid wird aber ein Zustimmungsquorum eingeführt. Der dort zur Abstimmung gestellte Gesetzentwurf muss nicht nur eine Mehrheit finden. Diese muss zudem 20 Prozent der Stimmberechtigten entsprechen, das sind 650 000 Bürger. Der Verein »Mehr Demokratie« sieht das als »Rückschritt«. Um die nötige Beteiligung sicherzustellen, fordert er die Kopplung von Volksentscheiden an Wahlen.
Neu aufgenommen werden soll in die Verfassung auch eine sogenannte »Popularklage«. Damit können 0,6 Prozent der Stimmberechtigten oder ein Zehntel der Abgeordneten des Landtags ein Gesetz dem Verfassungsgericht vorlegen, wenn sie dessen Vereinbarkeit mit der Verfassung bezweifeln. Das Instrument ähnelt dem von CDU-Landeschef Kretschmer im Wahlkampf 2019 vorgeschlagenen »Volkseinwand«. Weitere Neuerungen wären ein erleichtertes Verfahren zur Wahl von Verfassungsrichtern sowie die Möglichkeit, Gesetze elektronisch zu verkünden.
Ob das Paket tatsächlich bis Ende der Wahlperiode im Juni 2024 beschlossen wird, ist offen. Für die Zweidrittelmehrheit bräuchte es 80 Stimmen; die Koalition aus CDU (45 Abgeordnete), Grünen (12) und SPD (10) käme zusammen mit der Linken (14) auf 81 Stimmen. Nach Angaben der »Freien Presse« haben zwei Abgeordnete der CDU Vorbehalte angemeldet. Für die bisher an den Gesprächen nicht beteiligte Linke kündigte Gebhard an, man werde eigene Vorschläge unterbreiten. Ihre Forderungen hatten in der Vergangenheit von der Aufnahme einer Antifa-Klausel über die Streichung des Begriffs »Rasse« in der Verfassung bis zum Wahlalter 16 und dem Tierschutz als Staatsziel gereicht.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.