- Kommentare
- Deutsche Bahn
Millionen-Boni und Schokolade: Giftige Prämien
Sarah Liebigt über ein absurdes Missverhältnis von Anerkennung
Mein Ziel für 2023: Ich möchte genauso oft vergessen, pünktlich auf E-Mails zu antworten wie im Vorjahr. Meine Bilanz: Ich habe die pünktliche Antwort nur bei 180 von 250 E-Mails vergessen (2022 waren es 200). Ergebnis: Ich habe mein Ziel übererfüllt!
Das klingt so seltsam, dass ich mich beim Schreiben dieser Zeilen selbst am Kopf kratze. Während ein gewöhnlicher Mensch bei seinem Arbeitsziel wohl kaum davonkommen würde, es lediglich zu verfehlen, schönt der Vorstand seine tatsächliche Bilanz, wie Medienrecherchen zeigen. Ein Beispiel: Mitarbeitende sollen 2022 ihre Arbeit nicht noch blöder finden, als sie es eh schon tun. Der Status Ende 2022 ist der, dass die Mitarbeiterzufriedenheit geringfügig gestiegen ist. Tada! Jackpot. Ziel zu 175 Prozent übererfüllt! Die Vorstände der Deutschen Bahn gratulieren sich selbst und zahlen sich sechsstellige Boni aus.
Sarah Liebigt war mal Lokalchefin beim »nd«, hat mittlerweile jedoch Berlin und den Journalismus zumindest im Jobtitel verlassen. Heute arbeitet sie als PR-Consultant vom heimischen Schreibtisch aus – irgendwo in Sachsen.
Zum Beispiel 183.000 Euro für sechs Züge mehr: Berthold Huber, 2022 verantwortlich für den Fernverkehr, hatte das Ziel von mindestens 278 einsatzbereiten ICE-Zügen. Die erreichten 284 ICE werden als Zielerfüllung von 133 Prozent bewertet.
Gemäß der Prämisse »Oh, das geht ja! – Geht das auch!?« haben die Verantwortlichen sich außerdem darauf geeinigt, dass Ziele gegeneinander aufgerechnet werden. Das heißt, dass zu 175 Prozent übererfüllte Ziel von ein paar weniger unzufriedenen Mitarbeitern wiegt nicht erfüllte Ziele wie mehr Pünktlichkeit und weniger Zugausfall auf. Das Bahnnetz ist marode wie nie, jeder zweite Zug ist verspätet. Das Produkt ist mangelhaft – und trotzdem regnet es Scheine auf Anzugträger.
Lokführer*innen, Zugpersonal, alle, die dafür sorgen, dass die besagten sechs Züge denn auch fahren, dürfen sich derweil vermutlich über ein bisschen Weihnachtsschokolade freuen, die ihnen vom Konzern als Boni überreicht wird. Wobei: Davon, dass diese Züge auch gefahren sind und nicht bloß »einsatzbereit« auf dem Gleis herumstanden, habe ich nirgends was gelesen.
Wer sich nun besorgt fragt, ob Menschen, die weniger als 340.000 Euro pro Jahr verdienen, auch Prämien bekommen, dem sei die frohe Botschaft verkündet: Na klar! Und diese Boni sind sogar genauso absurd. Der unterbezahlte Krankenpfleger und die überarbeitete Anästhesieschwester zum Beispiel, die Sie, liebe Lesende, im Falle des Falles versorgen, bekommen an manchen Häusern pro Quartal 100 Euro extra – wenn sie sich nicht krank melden. Anwesenheitsprämie nennt sich das und klingt unfassbar deutsch. Wer möchte nicht gern von einer vergrippten operationstechnischen Assistenz versorgt werden oder sich auf den Pfleger stützen, der sich nach 20 Berufsjahren mit kaputten Gelenken zur Nachtschicht schleppt, weil die 100 Euro das Weihnachtsgeschenk für die Enkel aufpeppen.
Die Auswirkungen dieser, sehr freundlich ausgedrückt, ungleichen Verteilung zeigen sich an allen Ecken und Enden unserer Gemeinschaften. Wie solche »Prämien« die Stimmung vergiften können, erfahren beispielsweise Eltern und Erzieher*innen derzeit im Kindergarten aus erster Hand, die pünktlich kurz vorm Fest in den Notbetrieb gehen müssen. Weil Personal reihenweise erkrankt, unter anderem deswegen, weil einige Eltern ihre Kinder morgens mit Fiebersaft versorgen und im Kindergarten abgeben, um – höchstwahrscheinlich selbst kränkelnd – zur Arbeit zu fahren. Hashtag Covid is not over.
Dieses Beispiel für das drastische Missverhältnis von Anerkennung ist die nächste überflüssige Ladung Zement in die Kluft zwischen einigen Wenigen und der überwiegenden Mehrheit. Was indes schwerer wiegt als eine LKW-Ladung Zement ist nicht die Tatsache, dass dieses gut eingefahrene System für die Mehrheit seiner Empfänger*innen so schmerzhaft spürbar ist. Vielmehr zerreißt es das soziale Gefüge unserer Gemeinschaften (das es tatsächlich noch gibt) und bestätigt jeden Kopf, der sich endgültig rechter Propaganda zuwendet.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.