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Wünsch dir was: Beyond words
Darf es ein bisschen mehr sein? Vom Wunsch, etwas wünschen zu dürfen
Dieses Jahr feierte ich im Oktober zum ersten Mal Thanksgiving. Ich weiß nicht, ob es der Einfluss einer Freundin aus Texas war, oder ob die Menschen, mit denen ich den Abend verbrachte, einfach in der Stimmung waren, einen Grund zum Trinken zu finden, aber wir zelebrierten den Feiertag in Gänze: Es gab Truthahn aus dem Ofen (»Cold Turkey«, dachte ich spontan), Pumpkin Pie mit Custard (der so süß war, dass es richtig weh tat), und diverse andere Dinge, die lange im Ofen gebacken worden waren.
Wir sprachen über Kindheit, Liebe und die Lage der Welt – und stellten fest, was mir aktuell immer wieder auffällt, nämlich, dass Passivität ein aussterbendes Konzept zu sein scheint. Es ist, als ob plötzlich die Position der Beobachterin ihre Distanz verloren hätte – auch als Zuschauende trägt man nun Verantwortung und die scheinbare politische Nicht-Verortung wird zu einer eigenen Kategorie der Schuldigkeit. Passenderweise fand das Thanksgiving-Dinner in der Schweiz statt und die meisten der Anwesenden hatten ein ähnliches Problem wie ich, nämlich, mehr oder weniger bewusst »die Schweiz«, also offiziell neutral, zu sein. Als schuldige Zuschauer*innen aßen wir also unseren Pumpkin Pie und besprachen, in eben jener Distanz, die wir uns selbst vorwarfen, unsere eigene Schuldigkeit. Wir identifizierten sie als ein Spezifikum für die Generation der Millennials: Noch keine echten Digital Natives, aber auch keine Attention Span mehr, die es einem erlaubt, konzentriert ein Buch zu lesen.
Was bleibt also, wenn die Hingabe aus der Vergangenheit fehlt und gleichzeitig die Expertise aus der Gegenwart? Eigentlich nur das Beobachten. Das An-der-Reling-stehen und Zuschauen. Aber was, wenn man dabei Zeugin eines Geschehens wird, das nach Hilfe verlangt? Und was, wenn man diese Hilfeleistung, aus welchem Grund auch immer, nicht erbringen kann? Ich denke regelmäßig im Sommer im Berliner Prinzenbad über den Beruf des Bademeisters nach – und darüber, dass es wohl einer der anspruchsvollsten Berufe ist, die ich mir vorstellen kann: Todlangweilig, gleichzeitig geht es um Leben und Tod.
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So saßen wir also als unverantwortliche, schuldbewusste Bademeister am Tisch, pickten in unserem Pumpkin Pie und fragten uns, wofür wir dankbar sind. Der ausgesprochene Dank ist ja, im Unterschied zum Wunsch, eigentlich nutzlos: Während der Wunsch dafür da ist, einen selbst visualisieren zu lassen, was man erreichen könnte, wenn man es nur stark genug will, ist der Dank ja eine Bestätigung dessen, was schon da ist. Eine Re-Affirmation, eine Bestätigung. Der Dank impliziert auch, dass man sich nicht ganz verantwortlich fühlt, für die eigenen Errungenschaften: Gesundheit, Erfolg, Geld, Partnerschaft. Traditionell wäre es natürlich Gott, bei dem man sich dafür bedankt, dass einem ein Glück zuteil geworden ist, das man sich nicht selbst erarbeitet, für das man aber vielleicht gebetet hat.
Wir saßen also um den Tisch herum und fragten uns selbst, wofür wir dankbar waren. Und obwohl wir sicher alle zuerst die üblichen privatistischen Eingebungen hatten, zum Beispiel Dankbarkeit über unser Zusammensein an diesem Tisch und die Möglichkeit des Verzehrens jenes Pumpkin Pies, gab es etwas, das sich durch die Bekundungen der Dankbarkeit zog – nämlich Negativität. Wir alle waren nicht fähig, unsere individuelle Situation von der allgemeinen Situation zu abstrahieren: Und so bekundeten wir alle Dankbarkeit für die Dinge, die uns nicht widerfahren waren. Wir waren dankbar dafür, dass da, wo wir wohnen, kein Krieg herrscht. Wir waren dankbar dafür, gesund zu sein. Wir waren dankbar dafür, unsere Wohnungen (gerade so) bezahlen zu können. Wir waren dankbar dafür, Arbeit zu haben. Wir waren, um es konkret zu sagen, alle in erster Linie dankbar für unsere Privilegien. Es war richtiggehend enttäuschend, einfallslos – und wirkte erschreckend anachronistisch.
Und es zeigte vielleicht zweierlei: Erstens, dass wir wohl endgültig Erwachsene geworden waren und zweitens, dass die Lage der Welt vielleicht eben doch in ganz spezifischer Weise schief hängt. Dass die Dinge, von denen man sich wünschen würde, dass sie Selbstverständlichkeiten wären, aktuell besonders akut in Gefahr sind. Und dass einem deshalb die Grundlage dafür fehlt, sich all die Dinge zu wünschen, die man eigentlich gerne haben würde: Neue Falke-Strumpfhosen zum Beispiel, oder lieber einen Cheesecake als einen Pumpkin Pie. Einen Job, von dem man sich eine größere Wohnung leisten kann – oder eine, die besser gelegen ist. Öfter in teuren Restaurants essen gehen und eine kleine Affäre mit dem Nachbarn.
Und plötzlich wurde klar, was wir uns eigentlich wünschten: Nämlich eine Welt, die so in Ordnung ist, dass man sich all diese Dinge wünschen kann, die ein bißchen mehr sind. Nicht existenziell, sondern einfach ein kleines bißchen höher gegriffen als man sich, in seiner Bescheidenheit, in der Demut, die man im Angesicht des Grauenvollen hat, was täglich vor sich geht, traut, zu formulieren. Wir spürten ganz deutlich, dass wir uns in erster Linie wünschten, uns etwas wünschen zu dürfen. Nicht auf die ambitionierte Weise, in der man sich trauen muss, etwas zu wollen, sondern auf die weltvergessene Weise.
Wir wünschten uns, und tun es noch, uns nicht für unsere Privilegien bedanken zu müssen, sondern uns mit den kleinen Dingen beschäftigen zu dürfen. Mit den unwichtigen Dingen, dem Luxus, den kleinen und großen Extras. Es wurde ganz ernst am Tisch, als wir feststellten, dass wir ausschließlich dankbar dafür waren, dass uns bestimmte Dinge nicht widerfuhren. Und still wurde es auch – denn es war kein gutes Gesprächsthema, es war das Ende der Unterhaltung. Es gab keine lustige Anekdote, die uns mehr zu erzählen einfiel und auch das Lob auf den wirklich fantastischen Kuchen schien plötzlich mau.
Und so verabschiedeten wir uns und spazierten nachdenklich nach Hause. Und manche von uns, ich zum Beispiel, sagten vor dem Schlafengehen ein Gebet. Und anders als meine Kindergebete, die immer einen Inhalt hatten wie »Lieber Gott, bitte mach, dass mein Fahrrad nicht geklaut wird und dass der Fußballer aus der Parallelklasse in mich verliebt ist«, ging es dieses Mal in meinen Gebeten nicht um mich selbst. Und irgendwie fehlten mir auch die Worte, denn woran ich dabei dachte, war, wie man sagt, beyond words.
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