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Gertrud Kolmar: Dichtung und Wahrheit
Neues Buch über Leben und Werk der von den Nazis ermordeten Lyrikerin
»Wenn ich jetzt im Herbst mit der Straßenbahn gegen Abend an den Lichtenberger Laubengärten vorüberfuhr, wurde mir ›ganz anders‹ zumut, und ich bekam Heimweh nach F. – die Menschen dort liebte ich nicht, im Gegenteil, aber die Wiesen, den Wald und das ›neue Grundstück‹! ... und die Tiere – Flora! Wenn ich sie nur einmal wieder bürsten und kämmen könnte.«
Das schreibt die jüdische Lyrikerin Gertrud Kolmar am 9. November 1941 an ihre Schwester Hilde, die sich in der Schweiz vor den Nazis in Sicherheit gebracht hatte. Gertrud Kolmar jedoch war zur Zwangsarbeit in einer Kartonagenfabrik in Berlin-Lichtenberg verpflichtet. Weil sie mehr als eine Stunde Weg dorthin hatte – sie musste mehrfach umsteigen –, durfte Kolmar überhaupt noch mit S-, U- und Straßenbahn fahren, was Juden sonst schon verwehrt war.
Die Schriftstellerin hätte vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nach Großbritannien fliehen können. Sie sprach ausgezeichnet Englisch. Auch Palästina wäre eine denkbare Zuflucht gewesen. Kolmar lernte Hebräisch und versuchte sich in dieser Sprache zuletzt sogar als Übersetzerin und Dichterin. Die Faschisten hatten ihr die deutsche Sprache verleidet. Aber sie harrte aus bei ihrem alten Vater, dem Justizrat Ludwig Chodziesner. Dem führte sie seit der Krebserkrankung und dem Tod ihrer Mutter den Haushalt und hatte ihm auch als Sekretärin zur Verfügung gestanden.
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Der Vater wurde im September 1942 ins Ghetto nach Theresienstadt deporiert, wie so viele alte Berliner Juden, und starb dort im Februar 1943. Tochter Gertrud brachten die Nazis im März 1943 ins Konzentrationslager Auschwitz und töteten sie offensichtlich unmittelbar nach der Ankunft in der Gaskammer.
Das alles findet sich ausführlich abgehandelt in Friederike Heimanns neuem Buch über Gertrud Kolmar. »In der Feuerkette der Epoche« erschien im vergangenen Jahr im zur Suhrkamp-Gruppe gehörenden Jüdischen Verlag. Die Germanistin Heimann ist Spezialistin für deutsch-jüdische Autoren wie Paul Celan und Rose Ausländer und hat 2012 über Gertrud Kolmar promoviert. Ihr neues Buch beginnt sie mit einer Szene im Mai 2014. Da besichtigte Heimann gemeinsam mit einem Neffen Kolmars, der aus dem australischen Melbourne angereist war, die Stelle in Berlin-Schöneberg, an der die Lyrikerin die letzten Jahre ihres Lebens in einem sogenannten Judenhaus wohnen musste. Das geliebte Grundstück in der brandenburgischen Villenkolonie Finkenkrug, dem eingangs im Brief erwähnten F., hatte die Familie 1938 gezwungenermaßen verkaufen müssen.
Ludwig Chodziesner stammte aus der Provinz Posen. Sein Familienname leitet sich ab von der Stadt Chodzież. 1878 wurde die polnische Bezeichnung eingedeutscht: Kolmar hieß die Stadt nun – und diesen Namen wählte der Vater als Pseudonym für seine Tochter, als er 1917 einen ersten Band ihrer frühen Gedichte veröffentlichen ließ. Als junger Rechtsanwalt verteidigte Ludwig Chodziesner 1908 den Grafen Philipp zu Eulenburg und bewahrte ihn vor einer Verurteilung wegen Meineids. Denn der Kaiser Wilhelm II. nahestehende Diplomat Philipp zu Eulenburg hatte behauptet, niemals sexuell mit Männern verkehrt zu haben. Homosexualität stand damals noch unter Strafe.
Die juristische Glanzleistung verschaffte Chodziesner hohes Ansehen im Hochadel. Privat hegte er eher liberale Ansichten, doch soll der Anwalt kaisertreu gesinnt gewesen sein. Bis ins hohe Alter verehrte er den Historiker Heinrich von Treitschke (1834–1896), obwohl dieser Antisemit war. Berühmt-berüchtigt ist von Treitschkes Aussage: »Die Juden sind unser Unglück.« Chodziesners Haltung erklärt, warum er die heraufziehende Gefahr nicht erkannte und Deutschland nicht verlassen wollte, als das noch möglich gewesen wäre.
Mit Anhang füllt Friederike Heimann 462 Buchseiten. Viel davon ist Literaturwissenschaft. Es ist erstaunlich, was Heimann alles in die Gedichte von Gertrud Kolmar hineininterpretiert und aus dem Gesicht der Schriftstellerin auf Fotos herausliest. Sie erklärt Kolmar zu einer der bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts und steht mit dieser Ansicht nicht allein. Zu Lebzeiten Kolmars wurde wenig von der Schriftstellerin gedruckt. Auch heute gibt es mehr Bücher über sie als von ihr.
Nachdem Kolmar unverheiratet von einem preußischen Offizier schwanger wird und sich zu einer Abtreibung überreden lässt, ist der jungen Frau ein Lebensweg verwehrt, den eine aus ihren Kreisen sonst hätte einschlagen können. Sie arbeitet im Ersten Weltkrieg als Briefzensorin in einem Kriegsgefangenenlager und in der Weimarer Republik als Erzieherin, bevor sie sich um die Pflege ihrer todkranken Mutter kümmert und in Finkenkrug eine Art Hausangestellte ihrer Familie wird. Da sie mit 47 Jahren ermordet wird und ihr zweiter und dritter Lyrikband von 1934 und 1938 schon nicht mehr die gebührende Aufmerksamkeit finden können, bleibt ihr der echte Durchbruch zu Lebzeiten verwehrt.
Abgesehen von den umfangreichen literaturwissenschaftlichen Passagen bleibt in dem Buch »In der Feuerkette der Epoche« noch genug Raum, auch die biografischen und historischen Hintergründe von Kolmars Leben und Werk zu beleuchten. Sie war die Cousine des Philosophen Walter Benjamin, der ihr Talent erkannt hatte und dafür warb, ihre Gedichte in Zeitschriften zu veröffentlichen. 1933 ging Walter Benjamin nach Paris ins Exil. Letztendlich gelang es ihm aber nicht, den Nazis zu entkommen. Als diese Frankreich besiegten, floh er noch nach Spanien, nahm sich dort allerdings am 26. September 1940 das Leben, weil er fürchtete, ausgeliefert zu werden.
In Finkenkrug traf Gertrud Kolmar in den 30er Jahren wiederholt mit der Rechtsanwältin Hilde Benjamin zusammen, die von 1953 bis 1967 DDR-Justizministerin werden sollte. Geboren als Hilde Lange hatte sie Walter Benjamins Bruder Georg geheiratet – einen Kinderarzt und Kommunisten, den die Faschisten wegen seiner jüdischen Herkunft und seiner politischen Einstellung gleich doppelt hassten und ihn 1942 im KZ Mauthausen ermordeten. Hilde Benjamin bewahrte Schriften von Gertrud Kolmar auf, rettete sie so bis zur Befreiung vom Faschismus und sorgte in der DDR für eine Publikation, zu der sie ein Vorwort schrieb.
Es gibt im Falkenseer Ortsteil Finkenkrug einen Gertrud-Kolmar-Weg und in Berlin-Mitte nahe der Stelle, wo Adolf Hitler im April 1945 im sogenannten Führerbunker seinem Ende entgegensah, eine Gertrud-Kolmar-Straße. Seit 2007 liegt in Finkenkrug ein Stolperstein, der an den letzten frei gewählten Wohnsitz der Schriftstellerin erinnert. Schon seit 2004 liegt ein Stolperstein in Berlin-Schöneberg an der Speyerer Straße, wo Kolmar im Judenhaus leben musste.
Friederike Heimann: »In der Feuerkette der Epoche. Über Gertrud Kolmar«. Suhrkamp, 462 S., geb., 28 €.
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