• Kultur
  • Bildband »Call it Corona«

Stilles Land

Der umfangreiche Bildband »Call it Corona« versucht sich an der fotografischen Aufarbeitung der Pandemie

Berlin, 3.4. 2020. Kreuzberger Nächte sind lang und leer: Freitagabend um 20.15 Uhr U-Bahnhof Kottbusser Tor; Performance der Künstlerin breeda CC
Berlin, 3.4. 2020. Kreuzberger Nächte sind lang und leer: Freitagabend um 20.15 Uhr U-Bahnhof Kottbusser Tor; Performance der Künstlerin breeda CC

Heute haben wir einen Coronatest bei den Kindern gemacht, da Kind Nummer 2 etwas fieberte und sich unwohl fühlte. Gleichzeitig sieht man im Winter 2023/24 wieder Menschen mit Mundschutz in der U-Bahn und hört von Krankenhäusern, die ihren Besuchern Maskenpflicht verordnen, um die Patienten, also die vulnerablen Gruppen, vor Ansteckung mit dem immer noch oder schon wieder umgehenden Virus zu schützen.

Maskenpflicht? Vulnerable Gruppen? Corona-Tests? 7-Tage-Inzidenz? Dies scheinen heute merkwürdige Begriffe aus finsteren Zeiten zu sein. Dabei ist es gerade mal knapp vier Jahre her, als die ersten Meldungen über ein neues und möglicherweise gefährliches Virus die Runde machten und bald darauf die ersten Toten vermeldet wurden. Vom Tier sei es auf den Menschen übergegangen, schrieben die Zeitungen, eine sogenannte Zoonose, Begriffe, die man nie zuvor gehört hatte. Spätestens als die ersten Bilder aus dem italienischen Bergamo über die Bildschirme flimmerten, mit Armeelastwagen, die am Virus Gestorbene wegen überlasteter Krematorien abtransportierten, verfiel die Welt in Schockstarre und kurz danach in den allgemeinen Lockdown.

Die aus Hilflosigkeit geborenen Absurditäten dieser Zeit haben sich allen Zeitgenossen eingebrannt: wochenlange Schul- und Kitaschließungen, abgesperrte Spielplätze, Alte, die wegen der Kontaktverbote einsam in den Pflegeheimen litten und starben, ohne ihre Angehörigen noch einmal sehen zu dürfen. Nicht zu vergessen eine gespaltene Gesellschaft, die in verschiedene Lager zerfiel. Während die einen die Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts ernst nahmen und sich brav in die Schlangen vor den Impfzentren einreihten, zweifelten andere die vermeintliche Gefährlichkeit des Virus an und bestritten die Notwendigkeit der mehrfachen Impfungen. Die Konflikte eskalierten, als die Behörden Ungeimpften den Zugang zum gesellschaftlichen Leben, zu öffentlichen Einrichtungen, Restaurants, Theatern etc. verwehrten.

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Die Bruchlinien zwischen »Querdenkern«, Impfgegnern und jenen, die ihr Vertrauen in das staatliche Agieren trotz aller Zweifel nicht ganz verloren, ziehen sich bis in die Gegenwart. Vielleicht hat es mit diesen nie aufgearbeiteten Verwerfungen zu tun, dass gleich nach dem offiziellen Ende der gesundheitlichen Notlage das große Verdrängen begann. Nach der Rückkehr in die Normalität verschwanden die zu Prominenz gelangten Vertreter der jeweiligen Lager wieder in der Versenkung. Wer weiß schon noch genau, wer Attila Hildmann oder Christian Drosten sind bzw. welche Rolle sie spielten? Die Besonderheiten dieser Zeit sind vergessen, längst halten andere Dinge die Welt in Atem, bedrohen neue Kriege und der Klimawandel das fragile globale Gleichgewicht.

Angesichts der multiplen Krisen will von Corona eigentlich niemand mehr etwas hören, und so ist der erste Reflex bei Entgegennahme des voluminösen Bildbands »Call it Corona« Abwehr. Bloß nicht mehr damit beschäftigen müssen; wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Seiner Rezensentenpflicht nachkommend, durchblättert der Autor schließlich doch das Buch, in dem auf 250 Seiten insgesamt 89 Fotografinnen und Fotografen ihre Sicht auf die Pandemie festgehalten haben – und ist überrascht. Viele Details des Ausnahmezustands, in dem sich das Land für mehr als zwei Jahre befand, sind bereits dem Vergessen anheimgefallen, und man erinnert sich nur noch ungenau an manch bizarre Erscheinungen, Hintergründe und die eigenen Emotionen.

Bisweilen kommt sich der Betrachter vor wie ein Ethnologe auf Feldforschung, der ein exotisches Volk bei seinen merkwürdigen Ritualen beobachtet. Obwohl die letzten staatlichen Corona-Auflagen gerade mal vor knapp zwei Jahren aufgehoben wurden, im April 2022, ist der gefühlte Abstand zu der Zeit groß, als die Behörden die »2G+-Regel« erfanden und ein Kneipenbesuch nur mit tagesaktuellem Coronatest möglich war. So groß, dass man sich den fotografischen Geschichten, Essays und Reportagen des Buches schließlich doch mit Interesse widmet. So gesehen kommt der Bildband gerade zur rechten Zeit, da die Erinnerung an die Pandemie mit all ihren Begleiterscheinungen in ihre Historisierungsphase eingetreten zu sein scheint. Passend dazu tagt derzeit im Brandenburger Landtag ein Untersuchungsausschuss zur Aufarbeitung der Corona-Politik, andere Bundesländer wollen folgen.

Der Stillstand des öffentlichen und allzu oft auch des privaten Lebens ist die prägendste Erinnerung an die Zeit der aufeinanderfolgenden mehr oder weniger harten Lockdowns. Zu unerhört war die Tatsache des abrupten Halts auf freier Strecke. Gerade war man noch mit der rasenden Hektik des Alltags und der Bewältigung seines Pensums beschäftigt, als die Behörden die Notbremse zogen – und von einem Moment auf den anderen waren die Menschen auf sich allein gestellt, ruhte der Betrieb, war es gar verboten, sich mit anderen als den nächsten Angehörigen zu treffen. Für viele Menschen begann eine Zeit des stillen Leids und der sozialen Isolation.

Die aktuelle Pisa-Studie bezeugt die verheerenden Auswirkungen des Kontaktverbots und gescheiterten Homeschoolings auf Kinder und Jugendliche. Allerdings gehört zur Wahrheit auch, dass es für viele Familien, vor allem wenn die Kinder noch klein waren, möglich war, die Phase des Stillstands als eine wertvolle zu begreifen, bot sie doch die unverhoffte Chance, sich um das heimische Lagerfeuer zu versammeln und sehr viel Zeit miteinander zu verbringen – Zeit, die es im Alltag nie gibt.

Der Lockdown setzte ungeahnte Kreativität bei vielen Leuten frei, die sich irgendwie beschäftigen mussten, wollten sie nicht vor dem Fernseher verblöden. Folgerichtig sind viele Fotoessays im Buch eine direkte Reflexion des Stillstands. Eine gespenstische Leere springt den Betrachter auf vielen Bildern an; offenkundig ist die Faszination, die das stille Land auf viele Künstler ausgeübt hat. Häufig sehen wir eine angehaltene Stadt, normalerweise brüllend vor Leben, jetzt der Kontemplation anheimgegeben. Wann hat man so etwas je gesehen? Eine Millionenstadt mit menschenleeren Straßen und Plätzen? Gegenden wie die Reeperbahn, die sonst von vergnügungssüchtigen Menschenmassen geprägt ist. Berlin, wo die Kreuzberger Nächte lang … und nun leer sind. Oder, eine weitere Skurrilität, Open-Air-Popkonzerte, deren Zuhörer allesamt in ihren Autos vor der Bühne sitzen.

Zwar beherrschte das Virus lange Zeit unser Leben, dennoch blieb die Gefahr für die meisten abstrakt. Die in dem Band versammelten Fotografinnen und Fotografen versuchten, mit viel freier Zeit ausgestattet, die Pandemie und die eigenartige Atmosphäre des Lockdowns sicht- und begreifbar zu machen. Während die einen trotz behördlichen Ausgehverbots durch Stadt und Land streiften, dokumentierten andere – meist im Auftrag – das Treiben auf den Intensivstationen, wo die Mitarbeiter unsichtbar für die Öffentlichkeit bis zur Erschöpfung um jedes einzelne Leben kämpften.

Ein häufiges Sujet sind die »Corona-Diary« oder »-Chronicles« genannten impressionistischen Betrachtungen des eng gewordenen privaten Lebensraums. Alltägliches, das nun eine ganz neue Bedeutung bekam, Einschränkungen, Einsamkeit, Abstand, Maskenalltag sind die Stichworte manch kontemplativer Beschäftigung mit dem direkten Umfeld. Bei einer solch umfassenden Bestandsaufnahme, wie sie der Band »Call it Corona« sein möchte, verwundert es am Ende, dass er keine Arbeit enthält, die sich des weiten Feldes des Testens und Impfens annimmt. Schließlich gehörten die wie Pilze im warmen Regen des staatlichen Geldstroms aus dem Boden schießenden Testcenter zu den das Stadtbild eine Zeit lang prägenden Einrichtungen, ebenso wie die Impfzentren, vor denen die Menschen stundenlang geduldig in endlosen Schlangen ausharrten.

Erst in der Retrospektive wird deutlich, welche Zäsur die Covid-Pandemie und besonders die wiederholten Lockdowns bedeuteten, insbesondere auch für unsere Arbeitswelt. Diese hat sich durch die massenhafte Etablierung des Homeoffice radikal verändert, zumindest für jene, denen Arbeit am heimischen Schreibtisch möglich ist.

Fotografen gehören nicht zu dieser Gruppe, sie müssen rausgehen in die Welt und festhalten, was ist. Trotz wegbrechender Aufträge gehörten sie letztlich zu den Glücklichen in der Zeit des Lockdowns, konnten sie sich doch an ihrer Kamera festhalten und arbeiten, während andere Freiberufler zwangsweise Däumchen drehten und in eine existenzielle Notlage stürzten, die auch die staatlichen Corona-Hilfen nur mildern konnten. Dank des von dem Kölner Fotografen, Galeristen und Lehrer Wolfgang Zurborn kuratierten Bandes können wir uns nun wohlig zurücklehnen und die jüngste Vergangenheit Revue passieren lassen. Vergangenheit? Der Coronatest des Jüngsten jedenfalls war positiv.

Wolfgang Zurborn (Hg.): Call it Corona. Edition Bildperlen, 250 S., 49,95 €. Im Buchhandel oder im Direktvertrieb: www.callitcorona.com

Frankfurt/Main, 27.8.2020. Nach der Wiedereröffnung der Schulmensen wurden die Sitzplätze mit Absperrband gekennzeichnet.
Frankfurt/Main, 27.8.2020. Nach der Wiedereröffnung der Schulmensen wurden die Sitzplätze mit Absperrband gekennzeichnet.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.