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Prostatakrebs: OP oder Bestrahlung?
Unser Autor behandelt die eigene Erkrankung als Rechercheprojekt zu Vorteilen und Risiken verschiedener Therapiemöglichkeiten
»Wie hoch ist Ihr PSA-Wert?« Noch vor einem Jahr hatte ich keine Ahnung, was diese Frage bedeutet. Und es dauerte lange, bis ich verstand, wie bedrohlich es war, dass der Wert meines prostataspezifischen Antigens über 40 Nanogramm je Milliliter lag. Eigentlich aber beginnt diese Geschichte mit einer Vorsorgeuntersuchung. Männer in Deutschland gehen viel seltener zur Vorsorge als Frauen. Heute denke ich, sie sollten offensiver dazu aufgefordert werden.
Ich war 50, als ich das erste Mal zu meiner Hausärztin Ulrike Wolf zur Vorsorge ging. Sie meint: »Menschen, die Vorsorge betreiben, leben nicht nur länger, sie leben in der Regel auch besser, wenn ihre Erkrankungen rechtzeitig erkannt werden.«
Wenige Tage nach der Untersuchung bekam ich den Laborbefund: alles in Ordnung. Damals wusste ich noch nicht, dass es für 25 Euro Selbstbeteiligung möglich ist, auch den PSA-Wert bestimmen zu lassen.
Seit über 30 Jahren berichte ich als unabhängiger Journalist vorwiegend aus Guatemala. Aber auch in anderen Orten der Welt habe ich immer wieder zu Gesundheitsthemen recherchiert: zur miserablen Wasserversorgung in Armenvierteln von Ugandas Hauptstadt Kampala, über den erbärmlichen Zustand des Krankenversicherungssystems in den USA oder die tragischen Konsequenzen einer Cholera-Epidemie in einem Flüchtlingslager in Haiti.
Meist aber bin ich in Mittelamerika unterwegs. In El Salvador wird fast nie über Gesundheitsvorsorge gesprochen. Nur sehr wenige Guatemalteken haben eine Krankenversicherung. Wenn in Honduras jemand schwer krank wird, lautet die erste Frage meist: »Was kostet die Behandlung?« Viele Patienten können sich keine angemessene Therapie leisten. So sterben jedes Jahr Zehntausende Menschen in der Region an eigentlich heilbaren Krankheiten.
Ich hingegen bin nach meinem 53. Geburtstag das zweite Mal zur Vorsorgeuntersuchung gegangen. Wieder musste ich nur das kleine Plastikkärtchen meiner gesetzlichen Krankenversicherung vorlegen, während in vielen Ländern der Welt die Kosten eines Blutbilds und seiner Analyse höher sind als der Mindestlohn einer Woche. Diesmal erwähnte meine Hausärztin eher beiläufig, ich solle doch mal zum Urologen gehen. Das sei wichtig. »Dann bist du wirklich hingegangen«, erinnert sie sich. »Das war in deinem Fall natürlich totales Glück.«
Der Urologe
Mit Hilfe des Internets fand ich Doktor Dirk Wippermann: freundlich, fröhlich, Kumpeltyp. Er schlug mir vor, meinen PSA-Wert bestimmen zu lassen: »Das prostataspezifische Antigen ist ein Eiweiß, das in der Prostata gebildet wird«, erklärte er mir. »Es dient der Samenverflüssigung und wird ans Blut abgegeben.«
Diesmal war der Laborbefund besorgniserregend. Doktor Wippermann nannte meinen PSA-Wert »deutlich erhöht«, fügte aber beruhigend hinzu, das könne viele Ursachen haben. Dann machte er eine Tastuntersuchung meiner Prostata und ein Ultraschallbild.
Einen Monat später ließ ich meinen PSA-Wert erneut bestimmen. Er war weiter gestiegen und lag jetzt bei 44. Doktor Wippermann sagte, eigentlich solle er unter 4 liegen. Er schlug vor, eine Magnetresonanztomographie, MRT, machen zu lassen, und eine Biopsie. Das ist eine kleine Operation. Aber auf den Termin musste ich vier Monate lang warten.
Tatsächlich ist der Faktor Zeit bei Prostatakrebs nicht so entscheidend wie bei anderen Krebsarten. Das Karzinom wächst nur sehr langsam. Dennoch: je aggressiver der Tumor, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass sich Metastasen über das Organ hinaus anderswo im Körper festsetzen.
Die Diagnose
Der Tag der Biopsie rückte näher. Wieder fragte niemand nach Geld. Ein solcher Eingriff kostet über 2000 Euro, inklusive Vollnarkose. Ich spürte nicht, wie ein Arzt feine Nadeln über den Darm bis in meine Prostata einführte und an 20 Stellen Gewebeproben entnahm.
Eine Woche später lag der Befund auf dem Schreibtisch meines Urologen. Diesmal schaute mich Doktor Wippermann nicht so fröhlich an wie sonst. Ohne Umschweife teilte er mir mit: »Sie haben einen aggressiven Tumor, der bald entfernt werden muss.« In allen 20 Gewebeproben hatte das Labor Krebszellen gefunden. Meine Reaktion: »Was für ein Scheiß!« Wippermanns Antwort: »Das dürfen Sie ruhig sagen.«
Tatsächlich stirbt nur einer von zehn Männern, bei denen Prostatakrebs diagnostiziert wurde, daran. »Es kommt immer auf das Stadium an«, erläutert Wippermann. »Und auf die Art der Krebserkrankung. Gerade bei Prostatakrebs sind die Heilungschancen sehr hoch.«
Ich lernte ein neues Wort aus dem Krebsvokabular: Gleason-Score. Meiner lag bei 8 von 10. Das bedeutet: Ich hatte ein Hochrisikokarzinom, das sich schnell ausbreiten könnte. Die meisten Betroffenen folgen dem Rat ihres Urologen und lassen sich die Prostata operativ entfernen. Danach können sie zwar keine Kinder mehr zeugen und ihr Orgasmus ist trocken, also ohne Samenerguss. Ansonsten aber kann ein Mann ohne Prostata gut leben.
Aber natürlich kann die Entfernung des Organs Nebenwirkungen haben. Der Operateur muss die Harnröhre durchtrennen und nach der Entnahme der Prostata wieder zusammenfügen. So kommt es nicht selten zu einer Inkontinenz, also zu Problemen beim Wasserlassen. Außerdem können Nerven geschädigt werden, was zu Impotenz führen kann.
Das Rechercheprojekt
Die Vorstellung, den Urindrang nicht mehr ordentlich kontrollieren zu können und für eine Erektion auf Hilfsmittel angewiesen zu sein, gefiel mir gar nicht. Ich wollte eine Zweitmeinung hören und dann noch eine dritte und vierte. So begann für mich ein neues Rechercheprojekt, diesmal nicht aus journalistischer Neugier, sondern motiviert durch die Sorge um die eigene Gesundheit.
Trotzdem ging ich ähnlich vor wie in meinem Job: Fragen stellen, Antworten suchen – in Gesprächen mit Betroffenen, online, bei Terminen mit Expertinnen und Experten. Und immer wieder: Das Abwägen von Informationen, Fakten und Meinungen.
Und ich musste auf Emotionen eingehen. Meine Frau war geschockt: »Als du gesagt hast, die Diagnose sei schlecht, habe ich mich so mies gefühlt wie nur selten in meinem Leben.«
Meine Frau Magalí ist Guatemaltekin. Ihre Familie hat furchtbare Erfahrungen mit Krebs durchlebt. Kurz nachdem wir uns vor 30 Jahren kennengelernt hatten, starben zwei ihrer Cousinen in maroden, miserabel ausgestatteten Krankenhäusern in Guatemala-Stadt jung an Krebs. Auch deshalb war meine Diagnose so hart für sie. »Ich sagte zu Saraí: ›Ich mache mir große Sorgen um Papa.‹ Ich wollte, dass sie stark bleibt. Aber in Wahrheit fällt mir das selbst unheimlich schwer.«
Je tiefer ich in diese Recherche eintauchte, desto mehr kam es mir so vor, als sei ich zwischen zwei Fronten geraten. Auf der einen Seite stehen die Urologen, die explizit von einer Strahlenbehandlung abraten. Ihre Argumente sind noch dieselben wie vor Jahrzehnten. Auf der anderen Seite sagen die Strahlentherapeuten, ihre Methoden seien heute viel schonender und nebenwirkungsärmer als früher. Ich machte mich also auf die Suche nach einem Experten, der sowohl Operationen als auch Strahlenbehandlungen durchführt.
Die Hormontherapie
Martin Burmester ist Chefarzt des Prostatazentrums im Vinzenzkrankenhaus Hannover. Seine Ansage war klar: »Sie sollten möglichst bald mit einer Hormonentzugstherapie beginnen. Wegen Ihres Highrisk-Tumors schlage ich eine sechswöchige Strahlentherapie vor, kombiniert mit einer Hormontherapie von zwei bis drei Jahren.«
Einen Monat lang schluckte ich Antiandrogen-Tabletten. Danach bekam ich eine Drei-Monats-Depotspritze injiziert, deren Wirkstoff die Produktion des Hormons Testosteron drosselt und so die Ausbreitung der Krebszellen bremst. Testosteron ist ein wirklich erstaunliches Hormon. Der Entzug kann die Lust auf Sex geradezu in Luft auflösen. Außerdem bin ich viel gelassener geworden, rege mich nicht mehr so auf wie früher, weder über Kleinigkeiten des Alltags noch über die Themen der Weltpolitik.
Die Protonenbestrahlung
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Ich entschied mich gegen eine Operation und für die Hormontherapie sowie für eine Strahlenbehandlung mit Protonen. Im Vergleich zur herkömmlichen Bestrahlung mit Photonen gelten Protonen als sanfter. Das größte der vier deutschen Protonentherapiezentren befindet sich auf dem Gelände des Uniklinikums Essen.
In der großen Eingangshalle des WPE begrüßte mich der Leiter der Ambulanz, Jürgen Höing: »Prostatapatienten sind fast immer ältere Männer. Die meisten haben sich bewusst für eine Behandlung im WPE entschieden. Die Protonentherapie ist keine Standardbehandlung. Wer sich hier behandeln lässt, hat sich vorher kundig gemacht.«
Protonenstrahlen bestehen aus Wasserstoffatomkernen, die auf eine Geschwindigkeit von 650 Millionen Kilometer pro Stunde beschleunigt und in den Körper der Patienten geschossen werden. So wird der Krebs präzise zerstört. Während der 30 Strahlenbehandlungen habe ich nie etwas gespürt, keine Schmerzen kein Brennen, nichts.
Schon bald nach der sechswöchigen Strahlentherapie fühlte ich mich körperlich fast wieder so wie vor deren Beginn. Aber ausgestanden ist die Sache noch nicht. Prostatapatienten gelten erst fünf Jahre nach der Behandlung als krebsfrei, vorausgesetzt, dass keine Metastasen gefunden werden.
Wenig später sind Magalí und ich wieder nach Guatemala gereist. »Leider waren die meisten Regierungen hier extrem korrupt«, bedauert meine Frau. »Die öffentlichen Krankenhäuser wurden nie ordentlich ausgestattet. Die Menschen werden krank, bekommen aber oft keine Therapien. Ich habe viele Personen gekannt, die gestorben sind, obwohl es gar nicht so schwierig gewesen wäre, ihr Leben zu retten. Sie sind Opfer der Ungleichheit, der fehlenden Menschlichkeit, der Skrupellosigkeit vieler Politiker. Das zu sehen, tut weh.«
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