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Film »The Outrun«: Die Insel und die Frau
Nora Fingscheidt über ihren neuen Film und ihre Eindrücke vom Sundance-Filmfestival in Utah
Frau Fingscheidt, wie wurden Sie auf die Geschichte »The Outrun« von Amy Liptrot aufmerksam?
Mir wurde das Buch von unserer Produzentin Sarah Brocklehurst geschickt. Zu dem Zeitpunkt, als es zu mir kam, war Saoirse Ronan schon als Hauptdarstellerin engagiert. Das heißt, ich habe das Buch schon mit ihr als Hauptfigur in meiner Vorstellung gelesen, und das war natürlich eine total schöne Erfahrung.
Dann war es also die Produzentin, die drei Frauen für dieses Projekt zusammengebracht hat: Sie als Regisseurin, die Schauspielerin Saoirse Ronan und die Schriftstellerin des Buches, Amy Liptrot.
Genau. Sarah Brocklehurst hatte das Buch gelesen und die Rechte gesichert. Saoirse wiederum wurde von ihrem Ko-Produzenten und Partner Jack Lowden auf das Buch aufmerksam gemacht und recherchierte, wer die Rechte hat. So haben die beiden sich gefunden. Sie haben dann mich gefragt. Und das ist natürlich für jeden Filmemacher oder jede Filmemacherin ein Geschenk.
Nora Fingscheidt, 1983 in Braunschweig geborene deutsche Filmregisseurin und Drehbuchautorin, hat bereits mit Kurzfilmen Aufmerksamkeit erlangt. 2017 gewann sie den Max-Ophüls-Hauptpreis für ihren Dokumentarfilm »Ohne diese Welt«. Zwei Jahre später wurde ihr erster Spielfilm, »Systemsprenger«, auf der Berlinale mit dem Alfred-Bauer-Preis ausgezeichnet. Ihr neuer Film »The Outrun« feierte jetzt auf dem Sundance-Filmfestival in Utah Weltpremiere; im Februar wird er auch auf der Berlinale gezeigt.
In den Memoiren »The Outrun« erzählt Amy Liptrot von der Rückkehr an ihren Geburtsort, auf die schottischen Orkney-Inseln, um dort ihr Alkoholproblem in den Griff zu kriegen. Was war für Sie das Bewegende an dieser Frau oder an dieser Entzugsgeschichte?
Was ich an dem Buch so toll fand, war einerseits diese brutale Ehrlichkeit, mit der sie ihre Abhängigkeit beschreibt, was für eine körperliche Selbstzerstörung das auch ist. Und andererseits war ich fasziniert von ihrer Persönlichkeit: eine intelligente, interessante Frau, die sich Gedanken macht über die Welt, über das Universum, über die Natur. Und die sich während des Prozesses der Heilung langsam wieder verbindet mit ihren Wurzeln und mit dem Ort, von dem sie eigentlich immer weg wollte. Es war also diese Geschichte einer jungen Frau, die am Ende der Welt aufwächst, auf einer kleinen Insel, und unbedingt hinaus in die große Stadt will. Doch in der großen Stadt verliert sie alles, und ihr Leben bricht zusammen. Dann muss sie zurückgehen, genau an den Ort, wo sie nie mehr sein wollte, um Heilung zu finden. Das fand ich so schön. Es ist eine Geschichte über eine Frau und eine Insel.
Sie haben das Drehbuch mit Amy Liptrot zusammengeschrieben und die Figur »Rona« entwickelt. Konnte sich Amy dann in dieser Figur wiederfinden?
Ja, total. Mein Instinkt sagte mir, nachdem ich das Buch gelesen hatte, dass wir einen Namen finden müssen für die Figur, um eine kreative Distanz herzustellen. Wir haben zu dritt gezoomt, und Amy hat dann Rona vorgeschlagen. Das ist der Name einer schottischen Insel, die hinter dem Horizont liegt. Rona klingt aber auch ziemlich ähnlich wie Ronan, Saoirses Nachname. Gleichzeitig kommt der Name Nora in Rona vor, wenn man die Buchstaben umstellt. Also dachten wir, das ist ja wundervoll – und so haben wir quasi zu dritt diesen Charakter erschaffen, der zwar ein eigenständiger ist, aber natürlich trotzdem eine Reflexion von Amys Leben und von ihr.
Wie lange haben Sie an diesem Film gearbeitet?
Drei Jahre. Wir haben mehrfach gedreht. Die Natur spielt eine große Rolle in dem Film. Wir wussten, wir wollen da sein, wenn die Lämmer geboren werden. Die werden im April geboren. Und wir wollten die Vögel filmen, wenn sie gerade brüten in den Felsklippen. Also mussten wir im Juni wieder hin. Wir wollten auch Seehunde in unserem Film haben. Also mussten wir hin, bevor die dann weiterziehen im Herbst. Wir brauchten auch Winterbilder. Wir mussten quasi unseren ganzen Drehplan den Gegebenheiten der Natur anpassen. Den Hauptdreh, sechs Wochen, hatten wir im Sommer. Wir haben in London begonnen, sind dann hoch nach Edinburgh gefahren, schließlich weiter nach Orkney auf die Hauptinsel Orkney Mainland, und die letzten drei Wochen haben wir auf Poppy gedreht. Das ist diese ganz kleine Insel, wo Rona einen Winter alleine verbringt.
Der Film ist poetisch, visuell bildstark, ist symbolisch, aber auch sehr real. Wie haben Sie es geschafft, diese Balance zwischen Symbolischem und Realem zu halten?
Der Film ist ein Tanz zwischen Fiktion und Realität. Wir haben viel experimentiert. Der Film wird auf drei Ebenen erzählt: Es gibt die Orkney-Ebene, die London-Ebene und dann die sogenannte Nerd-Ebene. Das Buch ist wie eine Sammlung von Tagebucheinträgen: Amys Gedanken über die Welt, das Universum, die Natur, ihre Beschäftigung mit all den Details, dem Flugradar beispielsweise. Also all das, was man alleine zwei Jahre in so einer kleinen Hütte macht, wenn man versucht, nüchtern irgendwie klarzukommen mit dem Leben. Das haben wir als Basis genommen für diesen Nerd-Layer. Wir haben uns gesagt: Okay, London hat diese eine Ästhetik und Orkney hat die andere, und der Nerd-Layer, der macht einfach, was er will, der ist total frei. Der ist quasi endlos wie ihre Fantasie.
Finden Sie, dass die Figur der Rona auch so ein Systemsprenger ist?
Ha! Irgendwie schon. Ich bin fasziniert von Figuren, die den größten Kampf mit ihren eigenen Dämonen auszutragen haben. Mich interessiert nicht so sehr der Kampf des edlen Helden gegen das böse Außen, sondern ich finde es spannend, Charaktere zu erzählen, die einen inneren Konflikt durchleben. Und deshalb haben Benni von »Systemsprenger« und Rona aus »The Outrun« und auch irgendwie Ruth Slater aus »The Unforgivable« etwas gemeinsam: Es sind total unterschiedliche Figuren, aber die kämpfen alle mit ihren eigenen Dämonen.
Wie finden Sie das Sundance-Festival?
Das ist mein erstes Mal auf dem Sundance, und ich hatte überhaupt keine Vorstellung davon. Ich kannte natürlich das Festival beziehungsweise vor allem die Filme. Aber ich bin total fasziniert, dass dieses Festival hier an einem verschneiten Ort stattfindet. Überall sind Horden von cinephilen Menschen unterwegs, und überall ist diese kreative, brodelnde Energie zu spüren. Und das ist natürlich wunderschön, einfach großartig.
Was ist aus Ihrer Sicht der Unterschied zwischen dem Sundance-Festival und der Berlinale?
Ach, das ist schwer zu sagen. Ich kenne die Berlinale natürlich viel länger. Ich habe als Praktikantin bei der Berlinale angefangen. Ich war bestimmt 15-mal auf der Berlinale. Und es war ein Riesentraum für mich, da dann selber einen Film laufen zu haben. Beim Sundance-Festival bin ich zum ersten Mal. Der größte Unterschied ist vor allem, dass es sich hier um einen klitzekleinen Ort handelt, einen Skiort, wo wir alle in kleinen Chalets wohnen, umgeben von Schnee. Die Berlinale läuft hingegen in einer großen Stadt.
Wie kam es zu Ihrer Entscheidung, die Weltpremiere Ihres Filmes auf dem Sundance zu zeigen?
Das war eine gemeinsame Entscheidung, mit den Produzenten und dem Weltvertrieb. Saoirse Ronan hat eine persönliche Beziehung zum Sundance-Festival. Sie war hier sehr oft, und es ist, so unser Gefühl, für diesen Film der richtige Ort, um Weltpremiere zu feiern. Wir sind total dankbar, dass wir den Film dann auch in Berlin in der »Panorama«-Sektion zeigen dürfen.
Dadurch haben Sie jetzt auch zwei Arten von Publikum.
Ganz genau.
Wollten Sie immer Regisseurin werden?
Ja, schon. Ehrlich gesagt, das war ein Traum von mir schon als Teenagerin. Ich habe immer wahnsinnig gerne Filme geschaut, banale Sachen. Irgendwann dann habe ich »Titanic« gesehen und dachte bei mir: Man muss diesen Film noch mal drehen, Jack muss überleben! Ich habe mich gefragt: Wer hat denn diese Entscheidung getroffen, dass er sterben muss?! Im Nachhinein weiß ich natürlich, der Film würde überhaupt nicht funktionieren, wenn er überlebt hätte. Aber das war für mich so ein Aha-Erlebnis; da war ich vielleicht zehn oder elf Jahre alt und habe zum ersten Mal darüber nachgedacht, dass es ja Leute gibt, die diese Entscheidung treffen müssen.
In meiner Familie macht niemand etwas mit Film oder Kunst. Es ist eine für mich sehr weite Reise gewesen, dorthin zu gelangen, wo ich jetzt bin. Angefangen habe ich mit Kurzfilmen, die langsam immer länger wurden. Dann bin ich an der Filmhochschule angenommen worden. Und da habe ich auch ganz wichtige, kreative Partner kennengelernt.
Wie hätten Sie denn »Titanic« gedreht?
(Lacht herzlich) Mein elfjähriges Ich hätte Jack überleben lassen. Wie ich es jetzt machen würde? Wahrscheinlich würde ich gar nicht so viel ändern.
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