»Die Politik mag ich nicht«

Die 101-jährige Francesca Valls über die wechselhafte Geschichte Kataloniens und ihre Lebensrezepte

  • Interview: Ralf Streck
  • Lesedauer: 6 Min.
Katalonische Zeitzeugin – »Die Politik mag ich nicht«
Interview

Francesca Valls wurde am 13. September 1922 im katalanischen Dorf El Perelló geboren, wo sie noch heute viel Zeit ver­bringt und wo auch das Interview ent­stand. Sie lebt in Barcelona. Ihren Beruf als Sekretärin durfte sie unter Franco nicht mehr ausüben. Sie brachte zwei Kinder zur Welt und hat fünf Enkel und acht Urenkel. Nach dem Tod ihres Mannes vor fast 21 Jahren wurde sie Präsidentin der Vereinigung von Freunden der laizistischen und fortschrittlichen Schulen des Institut Escola. Ihre eigene Schule Pi i Margall war nach dem Fall Barcelonas als Schule der »Roten« geschlossen worden.

Wie soll ich Sie nennen? Cisqueta oder Cisca, wie Sie hier im Dorf genannt werden, oder Paquita, wie man Sie in Barcelona nennt?

Wie Sie wollen. Paquita wurde ich erst mit 18 Jahren genannt, als ich in eine Keksfabrik in Barcelona als Sekretärin arbeiten ging. Dem Chef gefiel Francesca nicht. Paquita sei herzlicher. Ich wollte nicht gleich widersprechen.

Sie waren beim Putsch von Primo de Rivera ein Jahr alt. Ich habe gelesen, dass Sie am 14. April 1931 auf den Ramblas in Barcelona waren, als Francesc Macià die katalanische Republik ausrief. Zuvor hatte die Republikanische Linke (ERC) die Wahlen am Ende der Diktatur gewonnen. Wie haben Sie das erlebt?

Das habe ich vor Augen, als wäre es gestern gewesen. Ich war neun Jahre alt. Wir sind mit einer Freundin meiner Mutter auf die Ramblas gegangen, da meine Eltern nicht konnten. Das war ein unglaubliches Gedränge und die Leute waren so glücklich, Sektkorken knallten, es wurde gesungen. Ich erinnere mich gut daran, dass ich mit der Freundin auch gut zwei Jahre später, am 27. Dezember 1933, zur Beerdigung von Präsident Macià auf dem Passeig de Colom war. Da lief Barcelona über.

Wie haben Sie als Kind die Veränderungen zwischen der Diktatur und der Republik erlebt?

Ich war zunächst auf einer streng katholischen Schule mit Geschlechtertrennung. Neben unserer Mädchenschule befand sich eine Priester-Jungenschule. Es war streng verboten, auch nur in den Nachbarhof zu schauen. Als ich in der Republik auf das Institut Escola Pi i Margall wechselte, saß plötzlich ein Junge neben mir. Das war eine schöne Zeit großer Kameradschaft. Wir waren eine große Gemeinschaft, auch mit den Lehrern. Die waren großartig. Lehrer müssen geschätzt werden, aber wichtig ist, dass die auch ihre Schüler schätzen.

Worin lag der große Unterschied?

Zum Beispiel hat einmal der Direktor nach dem Unterricht mit mir geredet, da ich in der Zeit etwas leichtfertig unterwegs war. Das bekam niemand mit. Er wies mich nicht öffentlich zurecht, sondern machte mir klar, dass ich die große Chance nutzen müsse. Ich sei intelligent und meine Eltern müssten große Opfer erbringen, damit ich eine gute Ausbildung bekomme. Ich bin ihm bis heute dankbar dafür. In der Franco-Diktatur waren wieder Strafe und Erniedrigung angesagt. Für einen Fehler musste zum Beispiel eine Freundin von mir eine ganze Woche mit aufgesetzten Eselsohren in der Klasse sitzen.

Wie erinnern Sie den Bürgerkrieg?

Ich war wieder in Barcelona, zuvor hatte unser Vater uns ins Dorf geschickt, da es in der Stadt heftige Konfrontationen gab, Kirchen wurden zerstört, das Mobiliar auf Plätzen verbrannt. 1938 wurde Barcelona über Wochen bombardiert. Wir Schüler mussten dann in den Keller. Auch die Deutschen haben uns schwer zugesetzt, um Franco zu helfen. Sehr schrecklich war, als eine Klassenkameradin ermordet wurde, die ihre kleine Schwester schützte. Wir suchten sie im Krankenhaus. Wir mussten durch einen Gang voller Tische. Darauf lagen Säcke mit Leichenresten. Ich war 16 Jahre alt und habe mich nur noch übergeben, hatte tagelang Fieber. Ich denke oft daran, seit der Ukraine-Krieg begonnen hat. Viele wissen nicht, was Krieg bedeutet: Quälerei für viele Menschen und eine große Misere. Gelöst wird nichts.

Wie hat sich das Leben nach dem Fall Barcelonas verändert?

Wir lebten schlecht, wir waren Verlierer, Franco bestimmte. Wir durften kein Katalanisch sprechen, taten das nur zu Hause. Wir versuchten zu überleben, uns ist zum Glück nichts Dramatisches zugestoßen. Jetzt, mit dem Aufstieg der Vox-Partei ist wieder unklar, wohin die Reise geht. Das macht mir Angst.

Haben Sie am Unabhängigkeitsreferendum 2017 teilgenommen, das von Spanien unterdrückt wurde?

Ja.

Sie hatten keine Angst, verprügelt zu werden?

Doch, aber wir hatten Glück. Bei uns passierte nichts, anders als in einem Wahllokal in der Nähe. Ich habe stets gewählt, wenn ich wählen konnte. Die Politik mag ich nicht, aber ich verfolge sie. Bei den Parlamentswahlen im Juli habe ich erstmals nicht gewählt. Ich bin verärgert über unsere Politiker. Ich wusste nicht, wen ich wählen sollte.

Sehen Sie ein unabhängiges Katalonien? Zweimal wurde eine katalanische Republik proklamiert. Die von Macià hielt wenige Tage. Sie ging als Autonomie in der Republik auf. 2017 erklärte sie Präsident Carles Puigdemont erneut, der ist weiter im Exil.

Es ist schwierig. Wenn Ministerpräsident Pedro Sánchez klug wäre, würde er eine Abstimmung zulassen. Ich glaube nicht, dass wir »Independentistas« gewinnen würden, da viele Leute aus dem ganzen Staat hier leben. In Barcelona spricht man schon viel Spanisch.

Wie leben Sie mit 101 Jahren?

Ich lebe hier im Dorf und in Barcelona allein, habe zur Grundreinigung eine Hilfe. Sehen Sie, wie alles blitzt. Meine Kinder helfen mir auch.

Wie wird man so gesund so alt? Sie haben nie Medikamente genommen, waren nur für zwei Tage im Krankenhaus, sind an der Senioren-Universität eingeschrieben, machen Veranstaltungen mit Schülern

Ich bin wissbegierig, ich muss immer dazulernen. Das habe ich von meinem Vater. Das hält den Kopf in Bewegung. Seit 20 Jahren, seit dem Tod meines Mannes, gehe ich in die Senioren-Universität, fahre mit dem Bus hin.

Machen Sie sonst etwas Besonderes?

Nein. Ich lese viel. Bücher, die mir gefallen, wie Tolstoi, habe schon fünfmal gelesen. Er hat Russland wunderbar beschrieben, wie die Leute auf dem Land gearbeitet haben. Wir waren auch »pagesos« (Bauern). Da ich nicht mehr gut sehe, lese ich jetzt mit großen Buchstaben per E-Book. Das ist blöd. Aber wenn ich nicht lese, platze ich. Ich liebe auch das Kino und ich liebe Musik. Ich war jeden Sonntag im Konzert und habe die Programme gesammelt. Als ich sie einem der Musik-Professoren an der Uni schenken wollte, sagte der, er könne einen solchen Schatz nicht annehmen. Musik erfüllt mein Leben. Ich erinnere mich an ein Brahms-Konzert, als mein Mann Lluís und ich nach der ersten Symphonie rausmussten. Wir waren so bewegt, wir wollten den Rest nicht mehr hören.

Ich dachte, dass nach dem Tod meines Ehemanns der traurigste Lebensabschnitt beginnen würde. Ich habe den auch mit der Uni überwunden. Wir hatten einst eine Vereinigung aus ehemaligen Schülern und Lehrern der drei Republik-Schulen gegründet, die von Franco in Barcelona geschlossen worden waren. Als mein Mann starb, war ich seit zehn Jahren Sekretärin. Ich übernahm dann die Präsidentschaft, um stärker beschäftigt zu sein.

Ist ein Teil Ihres Rezepts, stets guter Dinge zu sein?

Freundinnen sagen mir oft, sie würden gerne so sein wie ich. Ich sage ihnen dann, sie müssen »un poca solta« sein, wie man hier sagt: etwas unverfroren. Wenn man die Sachen und das Leben zu ernst nimmt, leidet man. Ich trinke aber auch viel Thymian-Tee, der ist stark keimtötend. Wenn ich eine Infektion im Mund habe oder Verdauungsprobleme. Hier isst man auch viel Thymian-Suppe, das hilft vielleicht auch.

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