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Vor 20 Jahren wurde Thomas Schulz ermordet
Sein Mörder ist ein Beispiel für jugendliche Radikalisierung und eine Neonazi-Karriere
28. März 2005, Ostermontag. In der U-Bahnhaltestelle an der Kampstraße begegnen sich der 32-jährige Punk Thomas genannt »Schmuddel« Schulz und der 17-jährige Neonazi Sven Kahlin. Schulz ist mit Freund*innen unterwegs, sie wollen zu einem Konzert. Sven Kahlin ist mit seiner Freundin auf dem Rückweg von einem Fußballspiel. Kahlin beleidigt die Punks, Thomas Schulz stellt ihn zur Rede. Kahlin zieht ein Messer und ersticht Schulz. Nach kurzer Flucht wird er festgenommen.
In der Neonazi-Szene wird die Tat gefeiert. In einem Beitrag heißt es, die »Machtfrage« sei gestellt und »befriedigend« beantwortet worden. Auf Aufklebern wird Antifaschismus als »Ritt auf Messers Schneide« bezeichnet. Siegfried Borchardt, 2021 verstorbener Anführer der Dortmunder Nazi-Szene erklärt: »Täter sind keine Opfer. No Tears for Punks!« Sven Kahlin wird unterstützt. Der damals 17-Jährige gehört zur »Skinheadfront Dortmund-Dorstfeld«, einem extrem rechten Freundeskreis, der sich regelmäßig an Nazi-Aufmärschen beteiligt und zu Rechtsrockkonzerten fährt.
Kahlins weiterer Lebenslauf muss angesichts eines Revivals extrem rechter Jugendgewalt als mahnendes Beispiel dafür angesehen werden, was aus den jugendlichen Schlägern von heute werden kann. Sven Kahlin wird vom Dortmunder Landgericht wegen Totschlags zu einer siebenjährigen Haftstrafe verurteilt. Der politische Hintergrund wird im Urteil heruntergespielt. Kahlin habe aus spontaner Wut gehandelt, heißt es. Nach fünf Jahren kommt er frei, einen Monat nach seiner Haftentlassung hält Kahlin bei einem Nazi-Aufmarsch in Hamm eine kurze Rede. Er trägt dabei ein T-Shirt mit dem Aufdruck »Was sollten wir bereuen?«. Im Winter 2011 wird Kahlin festgenommen, nachdem er zusammen mit anderen Neonazis zwei türkischstämmige Jugendliche auf dem Dortmunder Weihnachtsmarkt verprügelt hat. Vor Gericht wird er zu einer 21-monatigen Haftstrafe verurteilt. Der rassistische Hintergrund der Tat wird im Urteil nur unzureichend berücksichtigt. Die Opfer seien zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen heißt es.
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Auch nach der nächsten Haftentlassung bleibt Kahlin der extremen Rechten treu. Am Rande des Kampfsportevents »Kampf der Nibelungen« können Recherchegruppen ihn 2018 in Ostritz fotografieren. Kahlin trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift »Hooligans Dortmund«. Das passt zu Berichten, dass er auf der Südtribüne des BVB aufgetaucht sei, um linke Ultras des Bundesligaklubs einzuschüchtern. Zuletzt berichtete eine Recherchegruppe 2021, dass sich Sven Kahlin, der heute mit dem Nachnamen seiner Frau lebt, dem Bochumer Ableger der Rockergruppe »Outlaws MC« angeschlossen habe. Die Gruppierung steht im Verdacht, mit Drogenkriminalität, Zwangsprostitution und Menschenhandel in Verbindung zu stehen.
Kahlins Nazi-Karrierre fand nicht im luftleeren Raum statt. In Dortmund traf er auf ältere Nazis um Siegfried Borchardt, die sich seit den 80er Jahren von rechten Hooligans zu Nazi-Kadern politisiert hatten. Borchardt und dem Neonazi-Nachwuchs aus den Nullerjahren gelang es, eine über Jahrzehnte vitale Szene aufzubauen.
Für Antifaschist*innen war Dortmund in der Zeit um den Mord an Thomas Schulz ein hartes Pflaster. Linke Veranstaltungen konnten in der Ruhrgebietsstadt nur mit ausgefuchsten Sicherheitskonzepten stattfinden. Mit rechten Übergriffen war ständig zu rechnen. Stadt und Polizei spielten das Nazi-Problem regelmäßig herunter. Ständige Nazi-Aufmärsche in den späten Nullerjahren, mit teilweise vierstelligen Teilnehmer*innenzahlen, wurden mit der verkehrsgünstigen Lage der Stadt erklärt.
Wenige Tage nach dem Mord an Thomas Schulz gingen Tausende aus Empörung auf die Straße. Daraus entstand die »Schmuddel-Demo«. Zehn Jahre war sie fester Bestandteil im Demo-Kalender für Linke in Nordrhein-Westfalen und ein Platz, um den herum sich die antifaschistische Bewegung in Dortmund organisierte.
Ging es in den ersten Jahren der »Schmuddel-Demo« noch darum, unterschiedliche Akteure der extremen Rechten in das Licht der Öffentlichkeit zu zerren, wandelte sich die Demonstration ab 2012. Nach der Selbstenttarnung des NSU übten sich Dortmunder Antifaschist*innen in Selbstkritik. Die Nazi-Terrorgruppe hatte auch in Dortmund gemordet. Mehmet Kubaşık wurde am 4. April 2006 in seinem Kiosk ermordet. Die Familien von Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat, der zwei Tage später in Kassel erschossen wurde, organisierten damals Trauermärsche, forderten: »Kein zehntes Opfer!« Genau wie die Ermittlungsbehörden hatten auch Antifa-Strukturen bundesweit die neonazistische Mordserie nicht zur Kenntnis genommen.
2015 fand die »Schmuddel-Demo«, die sich zu einer Demo in Erinnerung an die Opfer rechter Gewalt gewandelt hatte, bislang zum letzten Mal statt. Die Organisator*innen hatten die Sorge, dass die Demonstration zu einem leeren Ritual werden könnte. Kleinere Gedenkaktionen gab es auch in den Folgejahren. Eine große Demonstration soll es erstmals wieder diesen Samstag geben. Von Kim Schmidt, Pressesprecherin der Autonomen Antifa 170, heißt es, die Tat gerate zunehmend in Vergessenheit. Das wolle man verhindern. Politik, Justiz, Polizei und Teile der Gesellschaft verharmlosten oder ignorierten rechte Gewalt. Es sei wichtig, an rechte Gewalttaten wie den Mord an Thomas Schulz zu erinnern, »nicht aus Nostalgie, sondern um zu zeigen, dass rechte Gewalt bis heute anhält und in größere gesellschaftliche Zusammenhänge eingebettet ist«, so Kim Schmidt.
Und die Dortmunder Neonazis? Die sind nach dem Wegzug mehrerer Kader zwar geschwächt, versuchen aber ihre Strukturen zu erneuern. Zuletzt zeigten sie Präsenz bei den Aufmärschen von jungen Neonazi-Gruppen. Möglicherweise findet sich ja ein neuer Sven Kahlin.
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