Demolierte Demokratie

»Unsere Demokratie verteidigen« – was der Aufstieg der AfD mit der politischen Mitte zu tun hat

  • Raul Zelik
  • Lesedauer: 6 Min.

Kaum ein Begriff ist in den vergangenen Wochen so häufig gefallen wie »unsere Demokratie«. Grünen-Politikerin Ricarda Lang jubilierte, die »Mitte dieses Landes« habe sich in Bewegung gesetzt, »um unsere demokratische Grundordnung zu verteidigen«. Aus Bayern verlautbarte der CSU-Fraktionsvorsitzende im Landtag Klaus Holetschek: »Wir werden unsere Werte und unsere Demokratie gemeinsam und entschlossen verteidigen.« Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger verkündete, sein Verband stehe fest zu »den Grundlagen der repräsentativen Demokratie«. CDU-Chef Friedrich Merz lobte die Demonstrationen gegen die AfD als »ermutigendes Zeichen unserer lebendigen Demokratie«. Und DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi ließ wissen: »Wir lassen uns unsere Demokratie nicht kaputtmachen!«

Klingt gut, aber von welcher Demokratie ist da eigentlich die Rede? Von der, die es einer Mieter*innen-Initiative ermöglicht, einen Volksentscheid zur Vergesellschaftung von Wohnraum in Berlin durchzusetzen und zu gewinnen – oder von der, in der sich die Senatsparteien weigern können, den Volksentscheid umzusetzen? Von der Demokratie, in der mehr als 70 Prozent der Bevölkerung seit mittlerweile zwei Jahrzehnten bei Umfragen die Einführung einer Millionärssteuer befürworten – oder von der, in der diese Steuer völlig undenkbar ist, weil keine Regierung den folgenden Unternehmeraufstand überleben würde? Von der Demokratie, in der alle Erwachsenen in freier Wahl ihre Abgeordneten bestimmen – oder von »unserer« real existierenden Demokratie, in der (wie in vielen Großstädten) 30 Prozent der erwachsenen Bevölkerung von Wahlen ausgeschlossen bleiben, weil sie zwar seit Langem hier leben, ihnen aber die entsprechende Staatsangehörigkeit fehlt? Man muss schon sagen: Am Ende ist »unsere Demokratie« auch ohne AfD ziemlich demoliert.

Kein Zweifel: Wenn der Faschismus vor der Tür steht und Nazikader über Massendeportationen beraten, muss man mit allen an einem Strang ziehen, die das verhindern wollen. FDP-Minister, die die Einführung einer Kindergrundsicherung verhindern, aber jederzeit 100 Milliarden Euro für militärische Aufrüstung locker machen, mögen mit der Menschenverachtung der AfD mehr gemein haben, als sie selbst glauben. Dennoch wäre ein AfD-Staat unendlich viel schlimmer als die Gesellschaft extremer sozialer Ungleichheit, in der wir heute leben.

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Trotzdem muss man, wenn jetzt überall von der »Verteidigung der Demokratie« die Rede ist, kritische Fragen stellen. Im Aufruf zur Demonstration #WirSindDieBrandmauer am 3. Februar werden Rassismus und soziale Ausgrenzung richtigerweise in einem Atemzug genannt. Es gelte, »ein solidarisches Miteinander zu verteidigen«, heißt es in dem Aufruf, den Sozialverbände, Klimabewegung und antirassistische Gruppen initiiert haben. »Soziale Gerechtigkeit« wird eingefordert und: »eine Gesellschaft, die niemanden zurücklässt«.

Stimmt! Der Punkt ist jedoch, dass »unsere« real existierende Demokratie eine Form von Gesellschaft ist, in der zwar alle (Deutschen) wählen dürfen, aber dennoch einige wenige herrschen – während die meisten anderen beherrscht werden. Die politische Gleichheit, die verfassungsrechtlich festgeschrieben ist, wird von der ebenso verfassungsrechtlich garantierten Eigentumsordnung konsequent auf den Kopf gestellt. Inwiefern? Große Vermögen sind die wichtigste Machtressource in unserer Gesellschaft und verhindern damit politische Gleichheit. Ein Unternehmer kann mithilfe von Medienkonzernen, Lobbyverbänden, Stiftungen, Forschungseinrichtungen und eigenen Investitionsentscheidungen enormen politischen Einfluss ausüben und, falls nötig, Regierungen brechen. Der Paketbote hingegen entscheidet im besten Fall darüber, ob er bei Netflix oder Amazon streamt.

Die politischen Systeme des globalen Südens werden häufig als »Oligarchien« bezeichnet: Reichtum und politische Macht sind dort in den Händen weniger konzentriert. Bei derartigen Hinweisen fällt allerdings unter den Tisch, dass Deutschland in Sachen Ungleichheit dem globalen Süden in nichts nach steht. Laut Gini-Index liegt Deutschland bei der Ungleichverteilung von Vermögen mit einem Wert von 0,79 knapp hinter der Ukraine und Peru, aber noch vor Kasachstan und Kirgisistan. Bei einem Wert von 0 besäßen alle Menschen gleich viel, bei 1 eine einzige Person das gesamte Vermögen der Gesellschaft.

Wer jetzt auf die Straße geht, um »die Demokratie zu verteidigen«, darf diese Kritik nicht zurückstellen. In Teilen der Bewegung gegen die AfD wird das genaue Gegenteil vertreten. Die Parteien setzen den »Extremismus von links«, der Gemeineigentum und Solidarität durchsetzen will, sowieso systematisch mit dem »Extremismus von rechts« gleich, der sich Ungleichheit, Konkurrenz und Gewalt auf die Fahnen schreibt. Und die Amadeu-Antonio-Stiftung beispielsweise, die zweifelsohne in vieler Hinsicht wichtige Arbeit leistet, hat die Kritik an Superreichen in der Vergangenheit des Öfteren in die Nähe des Antisemitismus gerückt, weil ihrer Meinung nach durch eine derartige Kritik ein strukturelles Verhältnis personalisiert werde.

Der Aufstieg der AfD ist eben kein extremistischer Angriff, der die liberale Gesellschaft von außen zerstört. Er kommt aus ihrer Mitte und beruht, zumindest teilweise, auf ihren Werten. Wunderbar nachlesen lässt sich das bei dem israelischen Historiker Ishay Landa, der in seinem Buch »Der Lehrling und sein Meister« die Gemeinsamkeiten von liberaler Tradition und Faschismus untersucht. Landa widerspricht der Vorstellung, wonach »der Liberalismus und die zu ihm gehörende Demokratie« in den 1930er Jahren »von ›verbrüderten Feinden‹«, nämlich den Extremisten von links und rechts, in die Zange genommen worden seien. Unterschlagen werde bei dieser Art der Geschichtsschreibung, so Landa, dass große Teile der politischen Mitte »auf Grundlage einer dezidiert prokapitalistischen und probürgerlichen Position antiliberal« wurden. Wer Privateigentum und die Freiheit der Märkte kompromisslos verteidigt, muss die Demokratie ab einem bestimmten Punkt als Gefahr wahrnehmen.

Dem Historiker geht es nicht darum, alte und platte Faschismustheorien der kommunistischen Linken aufzuwärmen. Landa will vielmehr bewusst machen, dass demokratische Errungenschaften in der Vergangenheit oft gegen den Liberalismus durchgesetzt werden mussten und sich nicht wenige Politiker der politischen Mitte für faschistische Politik begeisterten, wenn es half, »das Eigentum« zu schützen. Es waren die bürgerlichen, wirtschaftsfreundlichen Parteien, die dem Faschismus in den 1920er und 1930 Jahren zur Macht verhalfen.

Alle zusammen gegen den Faschismus ist das richtige Motto der Stunde. Aber wir sollten nicht vergessen, dass »unsere Gesellschaft« weitaus weniger mit Demokratie zu tun hat, als uns eingeredet wird. Was wir im Augenblick gegen die AfD zu verteidigen hoffen, ist ein Mindestmaß an Freiheits- und Menschenrechten – die allerdings auch von der politischen Mitte in den vergangenen Jahren bereits massiv beschnitten worden sind.

Die Parteien der Mitte verteidigen eine Ordnung, in der wirtschaftliche Ungleichheit die Demokratie zur Farce werden lässt. Die Rechte will angesichts des Widerspruchs noch weniger soziale Rechte und noch mehr Ungleichheit und Autoritarismus. Die Aufgabe von Linken muss es sein, für eine Gesellschaft zu kämpfen, in der die Demokratie real wird, weil sie auch das wirtschaftliche Leben erfasst und auf echter Gleichheit beruht.

Wenn wir »unsere Demokratie« sagen, meinen wir etwas völlig anderes, als dem Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger vorschwebt.

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