Oskar Negt: Macht es besser!

Nicht immer nur kritisieren: Zum Tod des Soziologen Oskar Negt

Zum Schluss war er Bundeskanzlerberater: Oskar Negt
Zum Schluss war er Bundeskanzlerberater: Oskar Negt

Nicht immer nur negieren und kritisieren, auch mal bessere Vorschläge machen – mit dieser typischen Erwachsenenforderung an die aufmüpfige Jugend kann man das Wirken des Soziologen Oskar Negt zusammenfassen. Ist aber gar nicht so spießig, wie man linksaußen vielleicht meinen könnte. Solange die gesellschaftlichen Verhältnisse grob gesagt erstarrt sind, kann man sich als linker Wissenschaftler auch mit der Frage befassen, welche praktischen Schlüsse aus der Kritischen Theorie zu ziehen sind. Das ist eher Humanismus als Positivismus.

Es ist sehr sinnvoll, hierfür auch für die Gewerkschaften zu arbeiten, denn Demokratie ist laut Oskar Negt eine »gesellschaftliche Lebensform, die sich nicht von selbst herstellt, sondern gelernt werden muss«. Und zwar in konkreten Auseinandersetzungen um bessere Arbeitsbedingungen für die Menschen. Das gilt 1968 ebenso wie heute.

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Negt ging es um Subjektentwicklung durch Bildung und Arbeitsorganisation. Als junger Mann war er in der Bildungsarbeit des DGB tätig und schrieb Mitte der 60er Jahre ein wichtiges Bildungskonzept für die IG Metall, das er »Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen« nannte. 20 Jahre später verfasste er mit »Lebendige Arbeit, enteignete Zeit« die entscheidende Programmschrift für den Kampf um die 35 Stunden-Woche, die es immer noch nicht flächendeckend gibt. Wen gibt es noch außer den Gewerkschaften? 1980 war er Mitgründer des Komitees für Grundrechte und Demokratie. In den 60ern war er wegen dem SDS aus der SPD rausgeflogen, in den 70ern stand er in dem von ihm mitinitierten Sozialistischen Büro zwischen ihr und der entschiedenen Linken. Schließlich war er wieder als »Sympathisant« auf der Seite der SPD. Auch das ist eine politische education sentimentale.

Oskar Negt war von 1970 bis zu seiner Emeritierung 2002 Professor für Soziologie an der Universität in Hannover. Er kam vom Frankfurter Institut für Sozialforschung, hatte bei Adorno über die Denkweisen von Compte und Hegel promoviert und dann als Assistent von Jürgen Habermas gearbeitet. Anders als dieser unterstützte er die Besetzung der Frankfurter Universität durch Studenten im Mai 1968, die für drei Tage in »Karl Marx Universität« umbenannt wurde, bevor sie polizeilich geräumt wurde. Habermas hielt solche Aktionsformen für schlimm und gewaltsam, Negt verteidigte sie in seinem Vorwort des von ihm herausgegebenen Sammelbandes »Die Linke antwortet Jürgen Habermas«.

Negt kam aus einer Kleinbauernfamilie in der Nähe von Königsberg in Ostpreussen und flüchtete im Januar 1945 als 10-Jähriger mit zwei Schwestern nach Dänemark, wo er zweieinhalb Jahre von ihnen getrennt allein in einem Flüchtlingslager lebte, bevor die Familie wieder zusammenkam. Eigentlich sollte er auf Wunsch seines Vaters in Göttingen Jurist werden, doch das war ihm zu langweilig und er ging 1955 nach Frankfurt am Main, wo Theodor W. Adorno und Max Horkheimer lehrten.

Adorno wirkte auf ihn abschreckend, als er erstmals eine Vorlesung von ihm über Ästhetik hörte: »Alles klang fremdartig, hermetisch abgeriegelt und erregte Widerstand in mir, weil es nicht gerade mein Wunsch gewesen war, eine Eiswüste der Abstraktion mit einer anderen auszutauschen.« Wäre da nicht Horkheimer gewesen, Negt wäre wieder abgereist. Doch Horkheimer »verhielt sich werbend gegenüber seinen Zuhörern, erweckte sofort Vertrauen, den geringsten Anflug eines Gedankens aufgreifend, um ihn zu drehen und zu wenden, bis er eine durchsichtige Form angenommen hatte«, schrieb er 1978 in der »Frankfurter Rundschau« über »Adorno als Lehrer«.

Solche Drehungen und Wendungen hin zur Klarheit beherrschte auch Negts Freund Alexander Kluge, der im Gegensatz zu ihm Jura fertig studiert und dann sein Referendariat beim Justitiar des Frankfurter Instituts gemacht hatte, bevor er Filmemacher und Schriftsteller wurde. Gemeinsam veröffentlichten sie drei sehr anregende wissenschaftliche Wimmelbücher für Bildungserlebnisse al gusto: »Öffentlichkeit und Erfahrung« (1972), »Geschichte und Eigensinn« (1981) und »Maßverhältnisse des Politischen« – es war sozusagen ihre zwar verspielte, aber marxistisch inspirierte Antwort auf die Habermas’schen Überlegungen zur Diskurstheorie, die ja das Gelingen eines guten Gesprächs mehr interessiert als die Produktionsverhältnisse.

Das erfolgreichste dieser Bücher war das imposante »Geschichte und Eigensinn«, mit über 1000 Seiten bei Zweitausendeins erschienen und zum Bestseller geworden. Es versammelte fragmentarische Überlegungen zu solchen Leuten wie Nietzsche, Fontane, Marx, Hölderlin und den Gebrüder Grimm, aber auch zur »Beziehungsarbeit in Privatverhältnissen« oder zur »Entleerung des modernen Schlachtfeldes«, um im Spannungsverhältnis von Krieg, Beziehungen und Industrie »Orientierungen« zu ermitteln, »nach denen einer sein Leben einrichten kann«, wie es im Klappentext heißt. Dazu gab es analog zum damals fortschrittlichen linken Kinderbuch (etwa in den Sammelbänden von Beltz und Gelberg) disparate, aber interessante Grafiken und Bilder, etwa zum »Schwimmverhalten eines Kleinkindes«, zu den Jupitermonden oder zur Lakritzwerbung von 1920 mit dem Ex-Generalfeldmarschall Hindenburg als Testimonial.

Das war eine Art wissenschaftlich-verspielter Godardfilm in Buchform zum Staunen, Reinlesen und Etwas-Rausfinden. Leider hat Oskar Negt später gemeint, er könnte mit Bundeskanzler Gerhard Schröder die Fantasie wenigstens ein bisschen an die Macht bringen. Das war dann doch etwas zu fantasielos. Am vergangenen Freitag starb Oskar Negt in Hannover im Alter von 89 Jahren.

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