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Lenin: Er wurde gerühmt und verdammt
Wladimir Iljitsch Lenin als Theoretiker, Stratege und Realpolitiker im Wandel der Zeiten
Er scheint fast aus dem Gedächtnis verdrängt: Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin. Seine Denkmäler in der ehemaligen Sowjetunion, in der alten DDR, in Osteuropa wurden fast alle geschleift. Gut hundert Jahre nach der Oktoberrevolution wird er gerne als deren unglückseliger Führer missachtet ... Überhaupt passt dieser Lenin mit seiner Revolution nicht in das Geschichtsbild der Führer in Moskau heute. Sie wollen an das starke Russländische Imperium anknüpfen, sodass der gestürzte Zar wie der Wiederhersteller der Großmacht Sowjetunion, Stalin, weit besser davonkommen als der radikale Zerstörer Lenin. In dieser Sicht sind die sozialen Widersprüche in dem kriegsgeschüttelten Russland des Jahres 1917 nicht wesentlich, erinnerten zu sehr an heutige Konflikte. Nicht Rote oder Weiße hätten im Bürgerkrieg gesiegt, sondern letztlich ein starkes, einiges Russland, für das am Ende beide kämpften.
Die Zeiten, da Linke ihren theoretischen, strategischen, politischen Kopf unbefangen lobten, sind lange vorbei. In der »Weltbühne«, der linksliberalen Kampfschrift der Weimarer Republik, bescheinigte Henri Guilbeaux, ein französischer Kommunist, Journalist und Zeitzeuge der Revolution, anlässlich Lenins Tod: Er hat »durch seinen unbesiegbaren Mut, durch seine wilde Energie, durch das Vertrauen der Massen, durch seinen wunderbaren Sinn für die Realitäten, der mit einer seltenen Fähigkeit verknüpft war, aus verworrenen und einander widersprechenden Tatsachen die richtigen Schlüsse zu ziehen – Lenin hat das russische Volk vom Zwang des Zarismus, des Kapitalismus und des Imperialismus der Alliierten befreit, für die das Zarenreich nichts weiter als eine Kolonie, ein Indien oder ein Madagaskar sein sollte. Er hat die Sowjetrepublik von den Söldnerheeren erlöst, die mit den konterrevolutionären Truppen vereint waren. Er hat endlich durch seine Parole: ›Die Elektrifizierung Russlands‹ seinen Willen bekundet, aus diesem rückständigen, einst den Fremden tributpflichtigem Lande einen industriell autonomen und modernen Staat zu machen.«
Zahlreiche Linke, gerade der postkommunistischen Parteien, tun sich dagegen heute schwer mit Lenin. Das ist verwunderlich, denn alle Reform- und Erneuerungsbewegungen hatten sich bis in die Zeiten der »Wende« 1989/91 mit ihren antistalinistischen Revolutionsversuchen in Osteuropa, die kläglich von der Konterrevolution vereinnahmt wurden, Lenins als Galionsfigur versichert. Denn der war nicht nur unbestreitbarer Führer der russischen Oktoberrevolution und Gründer der Sowjetunion. Er war auch selbstkritisch und erkannte früh die Grenzen seiner auf Russland beschränkt gebliebenen Revolution und ihrer zu Beginn der 1920er Jahre wahrnehmbaren Ergebnisse. Er wurde gerühmt ob seiner scharfsinnigen Kritik am Nachfolger Stalin.
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Allerdings, für die 1980er Jahre mag gelten, dass zahlreiche dieser Reformer sich eher nach sozialdemokratischen Entwicklungswegen schwedischer oder westdeutscher Vorbilder sehnten. Mit dem politischen, macht- und sozialismusorientierten kämpferischen Lenin hatten sie kaum noch etwas gemein. Er diente nur noch als Feigenblatt für einen Weg generell weg vom Sozialismus.
Aber dessen Reformansätze, vor allem in Gestalt der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) und des »Genossenschaftsplans«, wurden immer wieder als wegweisend für ein Erneuern des Realsozialismus gepriesen. So war es 1956, als Nikita Sergejewitsch Chruschtschow mit den Verbrechen Stalins abrechnete und die Wiederherstellung der Leninschen Normen versprach. So war es, als in den 1950/60er Jahren Reformkräfte in einigen osteuropäischen kommunistischen Parteien von unten und von oben Wirtschaftsreformen angingen, die die Planwirtschaft mit mehr oder minder ausgebauten Marktelementen neuen Bedingungen anpassen wollten. So war es in den 1980er Jahren, als Michail Sergejewitsch Gorbatschow mit der Perestroika eine umfassende Erneuerung des Realsozialismus weg von seiner administrativ-zentralistischen Verkürzung versprach. Lenins NÖP sollte Muster für marktwirtschaftliche Wirtschaftsreformen sein, er wurde hinsichtlich seiner Vorstellungen zur Demokratisierung von Partei und Staat gerühmt. Noch 1987 gab sich Gorbatschow als treuer Kommunist und Leninist: »Heute begreifen wir Sinn und Zweck der letzten Arbeiten Lenins deutlicher, verstehen wir besser, weshalb er sie, die ja im Grunde sein politisches Vermächtnis sind, geschrieben hat ...« Es blieben Lippenbekenntnisse und die reale Entwicklung erneuerte nicht den Sozialismus, sondern öffnete der kapitalistischen Restauration Tür und Tor.
Aus der Einleitung von Stefan Bollinger zu seinem jetzt in 2., ergänzten Auflage erschienen Buch »Lenin –Theorektiker, Stratege, marxistischer Realpolitiker« (PapyRossa, 147 S., br., 12 €).
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