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Corona-Quarantäne: Die Stigmatisierten stellen Ansprüche
Zu Beginn der Corona-Zeit wurden in Göttingen viele Menschen unrechtmäßig eingesperrt. Nun wollen sie entschädigt werden
Fünf Minuten vom Bahnhof entfernt steht der Wohnkomplex Groner Landstraße 9 direkt neben den Schienen. Hier stapeln sich 431 Wohnungen in drei Gebäudeteilen, so viele wie sonst nirgends in Göttingen. Zahlreiche Wäscheständer, die bis in die obersten der elf Stockwerke an den Fenstern angebracht sind, lassen schon aus der Ferne auf die Enge dieser Wohnungen erahnen. Ein kleiner Tunnel führt auf den gepflasterten Hof und zum Hauseingang. Unter der Anlage liegt eine offene Tiefgarage, die gut drei Meter über die Breite des Gebäudes hinausragt und damit wie ein Burggraben wirkt.
Auch in der Tiefe sind es etwa drei Meter, sodass niemand ernsthaft versuchen würde, darüber zu springen. Als der Gebäudekomplex im Juni 2020 von der Polizei abgeriegelt wurde, umzäunte sie trotzdem das komplette äußere Gelände. Eine absurde Vorstellung, dass die Bewohner*innen einen Beinbruch riskieren könnten, um auf die Straße zu gelangen, gegen ihre Quarantäne zu verstoßen und andere Menschen mit dem Coronavirus zu infizieren. Doch sie passt zum Blick der Behörde auf die Betroffenen.
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Damals wurde bei etwa 100 der über 700 Bewohner*innen eine Infektion mit dem noch weitgehend unbekannten Virus festgestellt. Die Stadt verfügte kurzerhand, alle Bewohner*innen zwangsweise in dem Gebäudekomplex festzuhalten, um eine Ausbreitung des Virus zu verhindern. Dabei waren die nicht-infizierten Menschen von diesem Moment an dazu verdammt, sich gemeinsam mit den infizierten durch die engen Flure zu bewegen, um etwa zum Container hinterm Haus zu gelangen, aus dem nach einigen Anlaufschwierigkeiten Essen für die Eingesperrten gereicht wurde.
»Diese Zeit war eine Katastrophe«, erinnert sich Calin Farkas kopfschüttelnd. Dem 30-Jährigen fällt als Erstes ein allgegenwärtiges Gefühl der Enge ein, wenn er auf die Tage vor bald vier Jahren angesprochen wird: »Es gab selbst draußen kaum Platz. Die Straße hinter dem Haus war zwar mit eingezäunt, aber trotzdem war überall Gedränge.« Farkas ist vor 13 Jahren wie viele seiner Nachbar*innen aus Rumänien hergezogen und lebt seitdem in der Groner Landstraße 9. Im Juni 2020 wohnte er bereits mit seiner Frau und den gemeinsamen Kindern zusammen. Mit Blick auf die Kleinen ärgert er sich besonders über die damalige Versorgungslage: »Es gab zwar etwas zu essen, aber nur kleine Portionen und überhaupt keine Auswahl. Mir hat das auch nicht alles geschmeckt, aber den Kindern erst recht nicht.«
Neben dem Essen war in den ersten Tagen auch eine unzureichende Versorgung mit Windeln und anderen Hygieneprodukten sowie eine mangelnde ärztliche Versorgung, insbesondere für Kinder, von den Eingezäunten beklagt worden. Diese Lücken wurden teilweise durch die Stadtbevölkerung abgefedert: mit Spenden und Botengängen und durch einen engagierten Kinderarzt, der darauf bestand, auf das Gelände gelassen zu werden, um die Kinder zu versorgen.
Für die Betroffenen war die Situation dennoch unerträglich: Sie sahen sich dem Virus ausgesetzt, öffentlich bloßgestellt, und ihrer Freiheit beraubt. Die verantwortliche Sozialdezernentin und heutige Oberbürgermeisterin Petra Broistedt (SPD) sorgte sich offenkundig eher um das Verständnis der Göttinger*innen außerhalb des Zaunes. Täglich wurde über den Stand der Dinge aus ihrer Sicht informiert.
Inner- und außerhalb der Zäune regte sich Protest gegen die Maßnahme. Parallel dazu bemühte sich der Göttinger Rechtsanwalt Sven Adam darum, der fraglichen rechtlichen Grundlage der Quarantäne-Maßnahme nachzugehen: »Die einzige mögliche Rechtsgrundlage einer zwangsweisen Absonderung – ein schrecklicher Begriff – ist die Unterbringung von sogenannten Quarantänebrechern und -brecherinnen in Klinken oder vergleichbaren Einrichtungen. Und das auch nur auf richterlichen Beschluss hin«, erläutert Adam rückblickend. Im Namen von zwei der betroffenen Familien nahm er Kontakt mit dem zuständigen Gericht auf und begann, gegen die Maßnahme zu klagen. Nach vier Tagen wurde die Einsperrung schließlich früher als geplant gelockert. Wer Glück gehabt hatte, konnte sich nun »freitesten«.
Die Misere hat System
Allerdings bietet das Leben in der Groner Landstraße 9 auch unabhängig von der Quarantäne nur bedingt eine Freiheit. Die Situation der Menschen ist nicht erst mit der Pandemie schwierig geworden: »Jeder hier würde ausziehen, wenn er könnte«, meint Calin Farkas. Doch es gibt Mechanismen, die sie auch nach Entfernung der Zäune an das Haus binden. Und daran ist die Stadt beteiligt.
Die meisten der Bewohner*innen landen dort nämlich, weil sie auf Sozialhilfe angewiesen sind. Der Satz für das Wohnen ist bei diesen Leistungen an sogenannte »Angemessenheitsgrenzen« geknüpft, die eine Höchstsumme an Mietzahlungen festlegen. In Städten mit angespanntem Wohnungsmarkt gibt es jedoch praktisch keine Wohnung, die sich so anmieten ließe. Mit einer Ausnahme: Die Vermieter, darunter die Frankfurter Coreo AG, die Wohnungen in der Groner Landstraße 9 und ähnliche Gebäude anbieten, stellen systematisch sicher, dass die verlangte Miete stets wenige Euro unter dem besagten Höchstsatz liegt. Auch wenn sie Haus und Wohnungen verfallen lassen, können sie sich sicher sein, dass ihre Objekte sichere Mieten einbringen. Schließlich haben die Mieter*innen keine Wahl, und die Stadt sorgt für regelmäßige Zahlungen.
Wer die Groner Landstraße 9 betritt, sieht, wie dieses Geschäftsmodell ein Gebäude ruiniert: Offensichtlich wird höchstens noch der Fahrstuhl repariert, Treppenhäuser bleiben dreckig, und viele Wohnungstüren schließen nicht mehr. Die Gerüche wechseln mit jeder Zwischentür. Mal riecht es auch nach leckerem Gebäck, im Kontrast dazu wirkt der nächste Flur um so schlimmer. Das Haus sieht aus wie eine Ruine, dabei ist es erst vor 45 Jahren als moderne Anlage errichtet worden. Inzwischen führt schon die Adresse zu Diskriminierung. Farkas beschreibt die Lage als einen Teufelskreis: »Ob es ein Vorstellungsgespräch oder die Bewerbung für eine andere Wohnung ist: Sobald sie deine Adresse hören, melden sie sich nicht mehr.«
Zwischen Hoffnung und Abweisung
Nach mehr als drei Jahren konnte Anwalt Sven Adam im November 2023 einen Erfolg verzeichnen. Die Maßnahme wurde vom Verwaltungsgericht als rechtswidrig eingestuft. Nun stand die Tür offen für einen möglichen Schadensersatz. Aus der Presse informiert, machten sich Mitglieder der Basisdemokratischen Linken, einer politischen Gruppe aus Göttingen, auf, möglichst viele Bewohner*innen über die Gerichtsentscheidung und ihre Möglichkeiten zu informieren. Sie haben an Türen geklopft, Informationstexte ausgehängt und mehrere Versammlungen im Innenhof der Groner Landstraße 9 abgehalten. Das Ergebnis: Etwa die Hälfte der Bewohner*innen hat sich entschieden, auf eine Entschädigung zu klagen. Viele davon vertreten durch den Adam.
Der Anwalt machte der Stadt zunächst das Angebot, außergerichtlich über eine Wiedergutmachung ins Gespräch zu kommen. Er erhielt jedoch nicht einmal eine Antwort. So sah sich der Anwalt gezwungen, die Schadensersatzklagen über eine Gesamtsumme von etwa 880 000 Euro noch zwischen Weihnachten und Neujahr einzureichen, da die Verjährung der Ansprüche am Jahresende drohte. Er vermutet ein Kalkül der Stadt: »Dass die Familien in die Klagen gezwungen werden, ist eine finanzpolitische Taktiererei – abermals auf dem Rücken der Menschen in der Groner Landstraße 9 bis 9b.« Eine Klage einzureichen ist schließlich gerade für von Armut betroffene Menschen mit einem erheblichen finanziellen Risiko behaftet. Sich dabei auch noch innerhalb weniger Tage entscheiden zu müssen, hat wohl tatsächlich einige davon abgebracht, auf ihrem Recht zu beharren.
Die Stadt hat inzwischen einen Antrag auf Zulassung zur Berufung gestellt. Sie möchte also das Gerichtsurteil zur Rechtswidrigkeit anfechten. Auf Anfrage möchte sich die Stadt nicht öffentlich zu dem Fall äußern. Das Göttinger Landgericht hat zuletzt außerdem Anträge auf Prozesskostenhilfe zurückgewiesen. Es geht von einem aussichtslosen Verfahren aus. Die Begründung erscheint allerdings fragwürdig.
So argumentiert das Gericht, dass die Klagenden ohnehin verpflichtet gewesen seien, sich in ihren Wohnungen abzusondern. Dabei betrifft dies nur eine Minderheit der von der Maßnahme Betroffenen. Die meisten Bewohner*innen waren schließlich nicht infiziert. Zudem wurde die Möglichkeit einer solchen Absonderung mit dem Abschneiden von möglicher Versorgung durch Freunde und Familie und die zentrale Essensausgabe im Hof von der Stadt selbst konterkariert. Möglicherweise versucht das Landgericht, die Verantwortung für den heiklen Fall an die nächsthöhere Instanz weiterzureichen. Diese wird über die absehbare Beschwerde befinden und dabei eine umfassende Bewertung mitliefern müssen.
Andererseits will das Gericht auch den Anklagepunkt der Verletzung des Persönlichkeitsrechts vom Tisch haben, das immerhin ein Grundrecht ist. Der Anklage zufolge soll dieses durch eine öffentliche Stigmatisierung der Bewohner*innenschaft als gefährlicher Infektionsherd entstanden sein. Das Gericht argumentiert nun, dass die Bewohner*innen des Hauses ohnehin derart stigmatisiert seien, dass ein zusätzlicher Schaden in dieser Hinsicht überhaupt nicht mehr entstehen konnte. Das ist es wohl, was man institutionellen Rassismus nennt.
Calin Farkas hat sich daran gewöhnt, dass sich die Behörden nicht für seine Probleme und seine Perspektive interessieren. Er fühlt sich unwürdig behandelt und erwartet keine Einsicht der Verantwortlichen. Dennoch geht er von einem positiven Verlauf des Verfahrens aus: »Wir werden hundertprozentig gewinnen«, ist er sich sicher. Und macht deutlich, was die Entschädigung bedeuten könnte: »Wenn wir wirklich ein paar tausend Euro kriegen, sind hier am nächsten Tag alle weg.«
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