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Der Humanismus der Insekten
In ihrem Erzählband »Werte Käfer« sichtet Maša Kulanović das Grauen um uns herum
Burgruinen, Nebelschwaden, Spinnenweben, schwarze Katzen, Fledermäuse – mit solchen Bildern wird das Gruseln zu Halloween vermarktet, zur Freude des Einzelhandels und kindlicher Gemüter. Das Grausen indes ist etwas anderes. Dieses Gefühl rufen die Geschichten hervor, die Maša Kulanović in ihrem Erzählband »Werte Käfer und andere Gruselgeschichten« versammelt hat. Es geht um die Abgründe in uns und um uns herum, weswegen diese Geschichten nicht in britischen Spukschlössern oder Burgen in den Karpaten spielen, sondern in Zweizimmerwohnungen, bei Ikea und an der sonnigen Adriaküste Kroatiens.
Nun ist es so, dass das Bild des Käfers als Ausdruck für das Gefühl des existenziellen Grauens schon einmal verwendet wurde, von einem berühmten Prager Schriftsteller. Kulanović fertigt in der Titelgeschichte aber keine Kopie der »Verwandlung« an, sondern einen originellen Remix. Dieser Begriff eignet sich auch gut, um die äußerst gelungene formale Gestaltung des Erzählbandes zu beschreiben, die der musikalischen Logik von Thema und Variation folgt. Wie bei einem Kaleidoskop kommt eine begrenzte Anzahl von Begriffen und Motiven in immer neuen Konstellationen vor, wodurch unter den Geschichten eine starke Kohäsion entsteht, ohne dass Monotonie aufkäme.
In der ersten Geschichte, »Lebendig begraben«, muss die Nichte einer in Dubrovnik verstorbenen Frau den letzten Wunsch ihrer Tante erfüllen, sie nur mit einem eingeschalteten Handy zu begraben und sie am Tag nach der Beerdigung dreimal anzurufen, um sicherzugehen, dass sie nicht lebendig begraben wurde. In der darauffolgenden Geschichte »Revolution« wiederum nimmt ein jugoslawisch sozialisierter Witwer brieflich den aussichtslosen Kampf gegen seinen abzockerischen Telekommunikationsanbieter auf. Schrecklich lustig und in höchstem Maße berührend, ist »Revolution« die Tragödie zu Gerhard Polts Farce vom Leasingvertrag.
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In jeder von Maša Kulanovićs Geschichten kommen Insekten vor, Altkleider sind ein wiederkehrendes Motiv. Thematische Konstanten sind Tod, Konsum, Verdrängungsprozesse, Kommunikation und Mutterschaft. Diese Verknüpfungen aufzuspüren würde sicherlich mindestens eine Bachelorarbeit für Studierende philologischer Fächer hergeben – für aufmerksame Leserinnen und Leser ist es ein erhellendes Vergnügen.
Das Grauen der Konsumwelt, das uns von Geburt an begleitet, stellt Kulanović besonders eindrücklich dar. »Wie angeboren uns doch Sachen sind«, denkt eine Mutter, wenn die Kinder »bei Rasseln, scheppernden Ringen, Spiegeln, sich bewegenden und glänzenden Dingen geradezu ausflippten. Sie befingerten und wie besessen in den Mund steckten. Manchmal mehrere gleichzeitig. Die Dinge drangen in die Babys ein, die Babys drangen in die Sachen ein.« Allerdings findet hier keine wohlfeile Konsumkritik statt. Wer könnte es der krebskranken Frau, deren Mann sich von ihr abgewendet hat und die ihr Leiden vor ihrer Tochter verbergen will, verdenken, dass sie Hoffnung und Trost aus der Kommunikation mit chinesischen Ebay-Händlern zieht? Oder der vereinsamten Witwe, dass sie sich dem Glücksversprechen von Ikea vollständig und vorbehaltlos ergeben möchte?
Wie eine Tonkünstlerin variiert Kulanović stetig Tempo, Rhythmus Lautstärke und den Klang ihrer Geschichten: »Der Schrein« etwa ist ruhig und zutiefst traurig, während »Der Kühlschrank« eher leicht und poetisch ist (die Beziehung zwischen diesen Titeln darzulegen, überlassen wir den Philolog*innen). »Endlos« ist eine Body-Horror-Rhapsodie über Mutterschaft, in der die Protagonistin davon träumt, mit ihrer Muttermilch »Fickt euch doch alle, ihr Arschlöcher!« an die Wand zu schreiben (heterosexuelle Männer, lest diesen Text!). Eher lustvoll überdreht ist hingegen der wilde Gonzo-Ritt »Druckerschwärze«, während in »Erlebensfall« der bedrückende, bleierne Sound von Lebensversicherungsverträgen herrscht.
Völlig ohne Effekthascherei gelingt es der Autorin, den Horror unserer Existenz darzustellen und nebenbei ein aktuelles Porträt Kroatiens zu zeichnen, mit seinen Neonazis und seinen hilflosen Flüchtlingshelferinnen, seinen überforderten Eltern, seinen windigen Verkäufern und seinen vereinsamten, sozialistisch geprägten Rentnerinnen und Rentnern.
So makaber die Geschichten zum Teil sind, drücken sie doch einen tiefen Humanismus aus. Denn wo Vergleiche mit »Ungeziefer« üblicherweise dazu dienen, Menschen herabzuwürdigen, dreht Kulanović das Insektenmotiv auf links: mit der gleichen Brutalität, mit der die Menschen etwa Kakerlaken verfolgen, werden sie wiederum vom Kapitalismus zermalmt. Oder, wie es im Titel einer Geschichte heißt: »Käfer sind fast wie Menschen«.
Maša Kulanović: Werte Käfer. A. d. Kroat. v. Marie Alpermann. Eta-Verlag, 208 S., geb., 19,90 €.
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