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  • Surrealismus in Belgien

»Die Kunst ist demobilisiert, es geht darum zu leben«

Vor etwa 100 Jahren entstand der Surrealismus – Anlass für gleich zwei Brüsseler Überblicks-Ausstellungen

  • Jürgen Schneider
  • Lesedauer: 5 Min.
Verschämt ins Chambre séparée verbannt? Paul Delvaux, »Pygmalion«, 1939
Verschämt ins Chambre séparée verbannt? Paul Delvaux, »Pygmalion«, 1939

Louis Aragon hat in seinem 1926 erschienen Werk »Paysan de Paris« (Pariser Landleben) das Café Certá als Geburtsstätte des Surrealismus evoziert: »[W]ie leicht gerät man hier, in diesem beneidenswerten Frieden, ins Träumen. Es entsteht ganz von selbst. Hier kommt der Surrealismus zu seinem vollen Recht. Man bringt dir ein gläsernes Tintenfaß, das mit einem Champagnerkorken verstöpselt ist, und schon bist du in vollem Zuge. Bilder, rieselt herab wie Konfetti. Bilder, Bilder, überall Bilder. (…) Doch wenn ich (…) die Vorhänge der Scheiben ein wenig hebe, dann nimmt mich das Schauspiel der Passage gefangen, das Kommen und Gehen, die Passanten. (…) Es gibt ebenso viele Gangarten wie am Himmel Wolken.« Walter Benjamin spielte auf die auch von Aragon initiierten Zusammenkünfte von André Breton und anderen, späteren Surrealisten im Café Certá an, als er schrieb: »Der Vater des Surrealismus war Dada, seine Mutter war eine Passage.«

Die surrealistische Bewegung kam aus der Literatur, war eine Folge des Niedergangs der großen Formen bürgerlicher Literatur. Aragons 1924 veröffentlichter Essay »Une vague de rêves« (Eine Traumwoge) gilt als surrealistisches Manifest noch vor dem »Ersten Manifest des Surrealismus« von André Breton. Dieser hatte 1922 in der Zeitschrift »Littérature« seinen endgültigen Bruch mit dem Dadaismus verkündet und seinen Text mit einem Aufruf zum Aufbruch auf die Straßen beendet. Der belgische Surrealist und Mitbegründer der Kommunistischen Partei Belgiens, Paul Nougé, schrieb 1924: »Die Kunst ist demobilisiert, es geht darum zu leben.« Ein Jahr später spricht er von der Notwendigkeit der Entwicklung der sozialen Revolution und unterzeichnet die Flugschrift »La Révolution d’abord et toujours!«, in der die Pariser Surrealisten Frankreichs Kolonialkrieg in Marokko anprangerten.

Die Feindschaft der Bourgeoisie gegen jedwede Bekundung radikaler geistiger Freiheit drängte den Surrealismus nach links. Politische Ereignisse, vor allem jedoch der Marokkokrieg, beschleunigten diese Entwicklung. Ende 1926 schlossen sich René Magritte, der seinen Malstil radikal änderte, nachdem er Giorgio de Chiricos Gemälde »Chant d’amour« (1914) sah, und E. L. T. Mesens der Gruppe um Nougé an, der bereits ab 1924 mit Marcel Lecomte und Camille Goemans das Periodikum »Correspondance« herausgebracht hatte. In seinem Essay »Der Sürrealismus – Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz« (1929) schrieb Benjamin: »Seit Bakunin hat es in Europa keinen radikalen Begriff von Freiheit mehr gegeben. Die Sürrealisten haben ihn. Sie sind die ersten, das liberale moralisch-humanistisch verkalkte Freiheitsideal zu erledigen…«

Im Brüsseler Bozar – Palais des Beaux-Arts ist derzeit die chronologisch angelegte Ausstellung »Histoire de ne pas rire – Le Surréalisme en Belgique« zu sehen, neben Gemälden, Fotos, Skulpturen, Zeichnungen beinhaltet sie auch Manifeste, Pamphlete und andere Druckerzeugnisse aus drei Surrealisten-Generationen. Der belgische Surrealismus war im Kern ein Männerereignis. Magritte, der in der Ausstellung mit seinen Gemälden omnipräsent ist, notierte einmal: »Die ›surrealistische Frau‹ war eine ebenso stupide Erfindung wie das ›Pin-up-Girl‹, das sie heue ersetzt.« Präsentiert werden Werke von Rachel Baes, die verkündete, sie sei keine surrealistische Malerin, sondern eine Surrealistin, die malt. Ihre gemalte Welt ist eine der kleinen Mädchen und verweist die auf ein Kindheitstrauma. Jane Graverol, laut der Kunsthistorikerin Marie Godet die treibende Kraft der surrealistischen Bewegung in Belgien, beschrieb ihre Gemälde als »bewusste Träume«. Ein immer wiederkehrendes Motiv ist der Käfig, in den mal eine Frau, mal ein Engel und dann gar der ganze Erdball eingesperrt ist.

Hervorzuheben sind Paul Nougés Traumwelten seiner 13-teiligen Schwarz-Weiß-Fotoserie »Subversions des images«, die 1929/30 entstand, aber erst 1968 veröffentlicht wurde. Raoul Ubac setzte ungewöhnlich geformte Steine aus Dalmatien als surrealistische Objekte in Szene und experimentierte mit Doppelbelichtung, Photogrammen und anderen Techniken. Marcel Lefrancq fotografierte 1938 im nächtlichen Mons. Die Nacht war das romantischste Thema der Surrealisten, und schon Novalis hatte formuliert, sie sei der Schlüssel zum Verständnis der Realität sowie »unendlicher Geheimnisse schweigender Bote«. Das Gemälde »Nocturnes«von Paul Delvauxist wie seine anderen Bilder von nackten Frauen bevölkert, die seltsame Handbewegungen vollführen. E. L. T. Mesens bereicherte die belgische Kunstwelt mit seinen Collagen und Fotomontagen. Marcel Mariën war siebzehn Jahre alt, als er sich 1937 der belgischen Surrealisten-Gruppe anschloss. Sein blasphemischer 16-mm-Film »L’imitation du cinéma« (1959) über einen Mann, der Christus ähneln und wie dieser ans Kreuz genagelt werden möchte, ist ein weiteres Highlight der Ausstellung.

Zwar scheint in dieser und mehr noch im Katalog auf, dass die Surrealisten wie Karl Marx die Welt transformieren und wie Arthur Rimbaud das Leben ändern wollten, es wird ihnen im Katalog allerdings auch bescheinigt, ein Paradox gewesen zu sein: Kleinbürger, die sich in Revolutionäre im Dienst der Gemeinschaft verwandelt hätten.

Die Musées Royaux des Beaux-Arts de Belgique entlehnten den Titel ihrer Surrealismus-Show »Imagine!« wohl John Lennon, ohne sich allerdings auf dessen Inhalt zu beziehen, auf den Traum von einer Welt ohne Landesgrenzen, Besitztümer, Habgier, Hunger und Krieg. In dieser Ausstellung ist zwar die Genderbalance besser als im benachbarten Bozar, das Rebellische der avantgardistischen Kunst aber nicht auf die sozialen Kräfte der Revolte bezogen. In einem Wandtext ist lediglich zu lesen: »Wie in einem schlechten Traum zeigen die fieberhaften Visionen der 1930er Jahre, voll des Horrors, die Gräueltaten auf, die Faschismus, Nazismus und Stalinismus verüben würden.« Surrealismus heißt hier Anknüpfung an den Symbolismus und thematische Setzungen, wie Nacht, Wald, Waldgeister, Chimären etc. Die surrealistische Kunstpraxis war von erotischen Energien getrieben, doch hier werden die erotischen Werke recht verschämt in ein Chambre séparée verbannt. Und statt zu imaginieren, was aus der zwischen Leo Trotzki und André Breton zu Füßen der mexikanischen Vulkane Popocatépetl und Iztaccihuatl angebahnten gemeinsamen revolutionär-surrealistischen Praxis hätte werden können, wird dem besessenen Showman und mit dem Faschismus sympathisierenden, von André Breton »dollar-gierig« genannten Salvador Dalí ziemlich viel Platz eingeräumt.

»Histoire de ne pas rire – Le Surréalisme en Belgique«, bis zum 16. Juni, Bozar, Brüssel  und »Imagine! 100 Years of International Surrealism«, bis zum 21. Juli, Musées Royaux des Beaux-Arts de Belgique, Brüssel (danach in Paris, Hamburg, Madrid und Philadelphia)

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