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»Krüppelpassion« von Jan Kuhlbrodt - Ohne Körper geht nichts
In »Krüppelpassion« erzählt Jan Kuhlbrodt von seinem eigenen Verschwinden aufgrund seiner MS-Erkrankung
Wie meine Mutter, so werde ich auch einmal liegen» – Jan Kuhlbrodt fällt mit der Tür ins Haus. Krankheit und Tod seiner Mutter leiten sein Buch «Krüppelpassion» ein. Der Autor berichtet vom letzten Besuch bei ihr am Krankenbett, schildert, wie sie in sich zurückgezogen daliegt und ihre Außenwelt nicht mehr wahrnimmt. Wie sie das Bett nicht mehr verlässt, so wie sie zuvor den Rollstuhl nicht mehr verlassen konnte. Auch Kuhlbrodts Mobilität schwindet, schreibt er. Auch ihm wird eines Tages nur noch das Liegen bleiben, das In-sich-Zurückziehen. Denn er hat die gleiche Krankheit wie seine Mutter. So wird sie ihm zum düsteren Vorbild für die Leiden, die ihm noch bevorstehen und mit denen er die Leser schonungslos konfrontiert: «Langsam stellt mein Körper seine Gefolgschaft ein.»
Es ist ein sehr persönliches und offenes Buch, in dem der in Leipzig lebende Autor über sein Leben mit – oder besser: trotz – Multipler Sklerose schreibt. Mehrere Krankheitsschübe musste er schon ertragen, die Behinderung schreitet fort. Mittlerweile sitzt er im Rollstuhl. «Vom Gehen» ist das Buch untertitelt. Auch wenn es darin um vielmehr geht als um Fortbewegung, ist deren fortschreitende Einschränkung der rote Faden.
Kuhlbrodt wurde 1966 Karl-Marx-Stadt, das heute wieder Chemnitz heißt, geboren. Bis zu seiner Arbeitsunfähigkeit war er als freier Schriftsteller tätig. Nach dem Studium der Politischen Ökonomie in Leipzig und der Philosophie in Frankfurt am Main studierte er am Leipziger Literaturinstitut, wo er später auch als Gastprofessor lehrte. Kuhlbrodt war von 2007 bis 2010 Geschäftsführer der Literaturzeitschrift «Edit». Für «Krüppelpassion» erhielt er 2023 den Alfred-Döblin-Preis.
Vor 20 Jahren zeigte Kuhlbrodts Körper die ersten Krankheitssymptome. Mittlerweile habe er vergessen, wie es sich überhaupt anfühlt, sich zu Fuß zu bewegen. «Man weiß noch, wie es geht, wie es ging, als man ging.» Aber an das Gefühl könne er sich nicht mehr erinnern. Er schildert seine letzte Fahrradfahrt durch ein Leipziger Neubaugebiet, bei der ihm schlagartig bewusst wird, dass es das letzte Mal sein wird, dass er auf dem Sattel sitzt. Verschiedene Facetten seiner Biografie scheinen auf, Szenen aus der Armeezeit und dem Studium. Kuhlbrodt vermengt sie mit gedanklichen Randgängen und Notizen. Sein Leben besteht aus Erinnerung, Akten, Fotos. Er gleitet ins Anekdotische, schreibt, was ihm gerade einfällt, um nicht von der Krankheit zu schreiben. Zu der er natürlich immer wieder zurückkehrt, weil er nicht anders kann.
Man spürt, wie der Autor mit sich kämpft, sich gegen sein Verschwinden wehrt. Vergeblich, denn durch die körperliche Immobilität verschwindet er erst aus der Außenwelt, verlässt irgendwann das alte Kinderzimmer nicht mehr, wo Bücherstapel ihn einhausen, weil er nicht mehr ans Regal herankommt. Ihm wird klar, dass er sie nie mehr alle lesen wird. Und schließlich muss er sich eingestehen, dass es wahrscheinlich das allerletzte Buch ist, das er jemals geschrieben haben wird.
Es ist bewegend, wie Kuhlbrodt schildert, von ihm wichtigen Orten ferngehalten zu werden. Treppen und fehlende Rampen respektive Aufzüge bewirken Ausschluss. Am Leben im Literaturinstitut etwa konnte er schon lange nicht mehr teilnehmen, ganz so, als wollte man ihn draußen halten. Als er noch an Krücken ging, schleppte er sich mit Mühen die steilen Stufen in der alten Gründerzeitvilla hoch. Und er schlitterte auf dem Hosenboden nach unten, aus Angst herunterzufallen. Dabei habe er über die Jahre gelernt, zu fallen und nicht auf dem Gesicht zu landen, fügt er lakonisch an.
Schonungslos beschreibt Kuhlbrodt ebenso seine Schwierigkeiten mit akutem Harndrang, wie er einmal in den Gang eines Einkaufszentrums urinieren musste, weil es nicht anders ging, und er sich schämte. Diese Zeilen werden zum wütenden Plädoyer gegen jene Einschränkungen, die Menschen ohne Einschränkungen gedankenlos anderen aufzwingen. Doch dringt er tiefer, kratzt an der Körperverachtung, die in großen Teilen der abendländischen Philosophie zu finden ist. Da wird die Vernunft über den Leib gestellt. Man sei Mensch, weil man denkt; der Körper, der das erst ermöglicht, wird übergangen.
Im alten Dilemma des Leib-Seele-Problems streitet Kuhlbrodt für den Körper. Weil er die schmerzhafte Erfahrung machen muss, dass der Körper Grundlage und Voraussetzung nicht nur des Denkens bildet. Was man erst erfährt, wenn er nicht mehr funktioniert.
Man muss sich nicht philosophiegeschichtlich mit dem kartesianischen Dualismus von Körper und Geist («Ich denke, also bin ich») beschäftigt haben, um Kuhlbrodts Einsicht zu teilen: Ohne Körper geht es nicht, ohne ihn geht nichts. Es schmerzt, dem Autor beim Lesen zu folgen, weil dem Text anzumerken ist, unter welchen Schmerzen er entstand. Umso dankbarer muss man für seine ehrlichen Einblicke sein. Sie stellen auch eine Lektion in Demut dar, weil man selbstverständlich nimmt, was so selbstverständlich scheint.
Jan Kuhlbrodt: Krüppelpassion – oder vom Gehen. Gans-Verlag, 240 S., br., 30 €.
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