- Kultur
- EZZES VON ESTIS
Jüdischer Witz und deutscher Ernst
Darf man als Deutscher einen jüdischen Witz verschweigen?
Zum jüdischen Witz gehören immer mindestens zwei. Es gehören mindestens zwei dazu, weil es meistens einen Dialog gibt. Den Dialog gibt es meistens innerhalb des Witzes. Außerhalb des Witzes gibt es im gleichen Moment meistens einen Monolog, weil jemand den Witz erzählt und die anderen zuhören.
Aber dieser Monolog ist meistens auch ein Dialog, weil es immer jemanden geben muss, der weiß, wie der Witz noch viel besser erzählt wird. Das ist ein sogenannter alzwejßer, einer, der alles weiß; doch es genügt nicht, dass er alles weiß – er weiß es auch noch besser. Und das ist viel schlechter, als wenn er einfach nur alles wüsste, denn »besser wissen« ist vielleicht nicht das Gegenteil von »wissen«, allerdings sicher auch nicht das Gegenteil dieses Gegenteils, also dasselbe wie »wissen«. Aber was weiß ich!
Alexander Estis, freischaffender Jude ohne festen Wohnsitz, schreibt in dieser Kolumne so viel Schmonzes, dass Ihnen die Pejes wachsen.
Jedenfalls: Zum jüdischen Witz gehören mindestens zwei, weil erstens der jüdische Witz dazugehört und zweitens der jüdische Ernst – und das sind zusammen schon sicherlich nicht weniger als mindestens zwei, wenn nicht sogar fast schon mehr. Der jüdische Witz ist niemals möglich ohne den jüdischen Ernst. So viele befassen sich mit dem jüdischen Witz, aber niemand will sich mit dem jüdischen Ernst befassen. Außer den Deutschen, bei denen ist es fast schon genau umgekehrt, auch wenn das natürlich wiederum nur ein Witz sein könnte.
Was ist aber der jüdische Ernst? Und ich meine nicht zum Beispiel Ernst Bloch. Was es wiederum mit dem deutschen Ernst auf sich hat und wohin er führt, das wissen wir ja nun schon, wenn auch der deutsche Ernst jünger ist. Inzwischen wissen wir nicht nur, was es damit auf sich hat, sondern wir wissen es sogar besser, was, wie gesagt, deutlich schlechter ist, weshalb wir uns vielleicht lieber wieder fragen sollten, was es mit dem deutschen Ernst auf sich hat. Hat der deutsche Ernst hinreichend jüdischen Witz?
Selbst wenn diese Frage beantwortet wäre, bliebe die andere: Was ist der jüdische Ernst? Der jüdische Ernst ist, was übrigbleibt, wenn man aus dem jüdischen Witz den Witz selbst entfernt. Das ist so, wie wenn man aus gefilte fisch den Fisch entfernt: Ohne jenes, was übrigbleibt, ist es zwar kein gefilte fisch, aber ohne Fisch wäre es weder fisch noch gefilt.
Denn jüdischer Ernst ist zwar zu haben ohne jüdischen Witz, aber dann ist es kein jüdischer Ernst, sondern einfach nur Ernst. Jüdischer Witz aber ist nicht zu haben ohne jüdischen Ernst; jüdischer Witz ohne jüdischen Ernst ist kein jüdischer Witz, sondern Judenwitz. Was ist der Unterschied zwischen Judenwitz und jüdischem Witz? Das ist einfach: Es ist der entscheidende.
Der entscheidende Witz ist: Das eine sind zwei Wörter, das andere nur eines. Zwei Wörter sind mehr als eines: Zwei Wörter sind zwei Stimmen, zwei Wörter sind zwei Bedeutungen, zwei Wörter sind zwei Leben, zwei Wörter sind zwei Welten, sind zwei Völker, zwei Wörter sind zwei Menschen. Beim jüdischen Witz lachen zwei Menschen über sich, indem sie über den anderen lachen; beim Judenwitz lacht ein Mensch für sich, indem er gegen den anderen lacht.
Aber manchmal kann man einen Witz durch ein Wunder verwandeln: Ein Judenwitz, den ein Chassid erzählt, wird plötzlich zu einem jüdischen Witz. Und ein jüdischer Witz, den Björn Höcke erzählt, wird sofort zum Judenwitz.
Viele fragen deshalb: Darf ich denn jüdische Witze erzählen, wenn ich kein Jude bin, sondern zum Beispiel Deutscher, zumal angesichts der Vorgeschichte? Die Frage ist falsch gestellt. Man muss fragen: Wenn ich Deutscher bin, darf ich, angesichts der Vorgeschichte, einen jüdischen Witz verschweigen?
Am Mittwoch, den 13. März, ist unser Kolumnist in Berlin zu erleben: »Kabarett Schabbat« mit Alexander Estis und Alexander Paperny (Balalaika), 19:30 Uhr, Theater im Palais
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