- Kultur
- Proteste gegen rechts
Der Schoß ist fruchtbar noch
Trotz Massenprotesten unter bürgerlicher Regie scheinen die Aussichten aus antifaschistischer Perspektive düster. Wiederholt sich hier die Geschichte?
Was waren nach Monaten aufsteigender Panik die bis heute nicht abreißenden Großdemonstrationen gegen rechts für eine Erleichterung. Unter den Hunderttausenden in München, Hamburg, Köln und Berlin konnte man sich kaum vorwärts bewegen. Während man den zum Teil durchaus nicht zu Ende gedachten Redebeiträgen und Animationstexten ziemlich ausgeliefert war, meinte man sich in den Gesichtern der ganzen Boomer*innen und ihrer Familien in aufgekratzter Stimmung zu spiegeln – obwohl der adäquate Spiegel wohl eher die »Omas gegen rechts« gewesen wären. Viele Zehntausend auch bei den im Verhältnis zur Bevölkerungszahl großen Demonstrationen insbesondere auch in der ostdeutschen Provinz wie in Schleiz, wo die Initiative »Dorfliebe für alle« den Reigen des Aufstands gegen den neuen Faschismus eröffnete – noch vor den »Enthüllungen«. Das war herrlich, beruhigend und ein Stimmungsaufheller in finsteren Zeiten, in denen man permanent zu »unhistorischen« Vergleichen neigt.
So schoss einem durch den Kopf, dass am 29. Januar 1933 in Berlin eine gigantische Massendemonstration stattfand, organisiert von der SPD-nahen »Eisernen Front«, dem Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB) und der sozialdemokratischen Straßenkampftruppe »Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold«: Mehrere Hunderttausend Menschen waren auf den Beinen, wenn nicht gar eine Million. Der damalige SPD-Vorsitzende des Bezirks Groß-Berlin und Reichstagsabgeordnete Franz Künstler beschwor »fundamentale Verfassungsrechte«, die in Gefahr seien, und die Einheit der Arbeiterklasse.
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
Tags darauf, am 30. Januar 1933, wurde Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt, und die Katastrophe war da. Vom Terror der ersten Wochen und Monate der NS-Herrschaft, dem Ungezählte zum Opfer fielen und in denen viele Zehntausende Bekanntschaft mit den aus dem Boden schießenden ersten Foltergefängnissen und frühen KZs machten, über die systematische Gleichschaltung und den Terror gegen Juden und Jüdinnen, Andersdenkende, Minderheiten und Kranke bis zu Shoah, Massenmord und Vernichtungsweltkrieg begann das zwölfjährige Inferno des Faschismus in Deutschland und in den verheerten Länder, die es überfiel. Der Protest der vielen war definitiv zu spät gekommen.
Dabei hatte es Warnzeichen genug gegeben, Hitlers »Mein Kampf« erschien erstmals bereits 1925. Und auch Joseph Goebbels‘ einschlägige höhnische Aussprüche zur Demokratie waren der Welt zugänglich (und sind noch heute mit wenigen Klicks im Internet zu finden). So verkündete er schon 1928 im »Angriff«: »Wir gehen in den Reichstag hinein, um uns im Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen Waffen zu versorgen. Wir werden Reichstagsabgeordnete, um die Weimarer Gesinnung mit ihrer eigenen Unterstützung lahmzulegen. Wenn die Demokratie so dumm ist, uns für diesen Bärendienst Freifahrkarten und Diäten zu geben, so ist das ihre eigene Sache. Wir zerbrechen uns darüber nicht den Kopf. Uns ist jedes gesetzliche Mittel recht, den Zustand von heute zu revolutionieren. … Wir kommen nicht als Freunde, auch nicht als Neutrale. Wir kommen als Feinde! Wie der Wolf in die Schafherde einbricht, so kommen wir.«
Rechte werden laut
Wer heute Parallelen ziehen will zu Goebbels’ Dreistigkeit, muss im neurechten Saum nicht lange suchen. Der Schnellrodaer Faschist Götz Kubischek lässt es ebenfalls an Deutlichkeit nicht fehlen, etwa mit dem viel zitierten Diktum von 2006, das Ziel sei »nicht die Beteiligung am Diskurs, sondern sein Ende als Konsensform, nicht ein Mitreden, sondern eine andere Sprache, nicht der Stehplatz im Salon, sondern die Beendigung der Party«. Und er tritt in einer »Wiedervorlage« seines Essays »Provokation« schon 2017 – damals war noch Frauke Petry bei der AfD mit am Start – dafür ein, dass Rechte, Neurechte und sonstige Faschist*innen sich, bei Strafe der Anverwandlung – nicht in Selbstverharmlosung üben, sondern Tacheles reden sollten. Wir wissen, dass sich das für die AfD und andere Lautsprecher der faschistischen Wende im Land ausgezahlt hat: Kein »Wutbürger« oder »Querdenker« lässt sich heute noch davon abhalten, AfD zu wählen oder »Junge Freiheit« und das »Compact«-Magazin Jürgen Elsässers zu lesen, nur weil deren Protagonist*innen und »Edelfedern« offen faschistisch, rassistisch, antisemitisch und voll LGBTQIA+-Hass tönen und schmieren.
Der gegenwärtige Massenprotest gegen rechts hatte sich an einer Enthüllungsstory zu Deportationsplänen der Faschist*innen – hier ausgehend vom österreichischen Identitären-Führer Martin Sellner – entzündet. Für antifaschistische Recherchegruppen ist es nicht nachvollziehbar, weshalb nun erst dieser Zündfunke nötig war, offenbar werden zu lassen, was diese einschlägigen Antifa-Initiativen, Publikationsorgane und Bildungsformate seit Jahrzehnten am Rande des Diskurses feilbieten wie Verleihnix seinen Fisch.
Der Autor etwa zitierte – auf Einladung der Sprecherin für antifaschistische Politik der Linke-Fraktion im sächsischen Landtag, Kerstin Köditz – bei einer Kundgebung gegen einen Wahlkampfauftritt Björn Höckes in Grimma am 19. August 2019 ausführlich den für viele unerwünschten Besucher der Stadt: »In dem Interview-Buch ›Nie zweimal in denselben Fluss‹ … macht Höcke deutlich, dass der von ihm angestrebte Ausschluss von Teilen der Bevölkerung aus dem ›Volk‹ ... nicht allein Migrant*innen betrifft. Höcke belässt es also nicht dabei, in offen faschistischem Ton für den Kampf gegen den vermeintlichen Volkstod zu agitieren. Er plädiert auch in Bezug auf deutsche Staatsbürger*innen für einschneidende Maßnahmen.«
Das geht noch weit über das »Remigrations«-Konzept von Sellner und seinesgleichen hinaus. So sage er, angeblich Hegel zitierend, »brandige Glieder können nicht mit Lavendelwasser kuriert werden«, sondern im Falle des von ihm gewünschten Systemwechsels würden »wir leider ein paar Volksteile verlieren ..., die zu schwach oder nicht willens sind, gegen die Afrikanisierung und Islamisierung« mitzumachen. Hier träumt einer von Machtergreifung und Massenverhaftungen und was man aus seinen Worten an noch Schlimmerem herauslesen kann. Höcke verschleiert seine Absichten keineswegs, jede Person kann das nachlesen: »Die deutsche Unbedingtheit wird der Garant dafür sein, dass wir die Sache gründlich und grundsätzlich anpacken werden. Wenn einmal die Wendezeit gekommen ist, dann machen wir Deutschen keine halben Sachen.« So viel zu Grimma 2019.
Zu jener Zeit lag der Kipppunkt rechter Rhetorik im Lande bereits hinter uns, der 1. September 2018. Anlässlich eines »Trauermarsches« in der sächsischen Provinzstadt Chemnitz waren um die 10.000 Faschist*innen, AfD- und Pegida-Anhänger*innen aufmarschiert. Höcke mit Partei- und Fraktionskolleg*innen aus etlichen Bundesländern in der ersten Reihe. Außerdem wurden Schlüsselfiguren wie eben Kubitschek gesehen, dann der damals noch »Pro Chemnitz«-Chef, heute »Freie Sachsen«-Führer Martin Kohlmann, auch schon IB-Chef Martin Sellner, der spätere Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, Stephan Ernst, und sein Spießgeselle Markus Hartmann.
Aus der Mitte der Gesellschaft
Schon vor fünf Jahren also war ersichtlich, dass der Einwand, man könne 1933 nicht mit 2024 vergleichen, weil es keine SA oder ähnliche Schlägertrupps auf den Straßen gäbe, fragwürdig ist. Die Überschneidungen zwischen der aufstrebenden und immer offener faschistisch auftretenden AfD und militanten bis rechtsterroristischen Gruppen lassen sich schon lange nachweisen. Das bedrohliche Potenzial an bewaffneten Truppenteilen dürfte in der Dunkelziffer hinter den zahlreichen Großverfahren (Reichsbürger, Franco A., Gruppe S, Revolution Chemnitz, Lübcke-Mord, Knockout 51, Halle-Attentat, Nordkreuz und so weiter) verborgen sein: Die Befürchtung scheint nicht übertrieben, dass sich im Verborgenen eine veritable bewaffnete und zu Gewalt, Mord und Terror bereite faschistische Bürgerkriegsarmee entwickelt – noch überwiegend unverbunden, aber in Habachtstellung für den berühmten Tag X, der in der Tat nicht ferne.
Unter den heimlichen und gelegentlich auffliegenden rechten Aufrührer*innen sind fast immer Angehörige der bewaffneten Organe der Bundesrepublik, ebenso wie (Hobby-)Jäger, Sportschützen und Vertreter*innen »anständiger Berufsstände« aus Justiz, Beamten- und Unternehmertum. Und fast immer sind eben auch AfD-Figuren involviert oder angebunden. Ein Zündfunke, der diese gefährlichen Leute mit Erfahrung im Umgang mit Waffen mit einem Mob wie vor dem US-Kapitol oder dem brasilianischen Parlament in Brasilia kurzschließt, könnte den von Kubitschek schon 2017 herbeigesehnten Erdrutsch auslösen: ein »Erdrutsch, der die Talsohle noch nicht erreicht hat, von dem also noch keiner weiß, was er auf seiner Bahn noch mitreißen, zermalmen und verschütten wird«.
Es wird sich 1933 nicht eins zu eins wiederholen. Es könnte aber ähnlich laufen. Der Knackpunkt wird wie damals die Gewalt sein: Wer verfügt über genügend loyales Potenzial. Wie viele gewaltbereite, um nicht zu sagen, gewaltgeile Anhänger*innen kann der neue Faschismus gegen die in die Enge getriebene Republik aufbieten? Vielleicht geht es aber auch mit weniger Gewalt ab, EU-Staaten machen es vor, wie bürgerliche Rechtsstaaten in »illiberale Demokratien« transformiert werden können oder wie autoritäre bis faschistische Regime sich die Zustimmung großer Teile der Einwohner*innen holen und fast unumkehrbare Verwandlungen in ultranationalistische Gemeinwesen vollziehen.
Der Münchener Gesellschaftskritiker Georg Seeßlen hat es in dankenswerter Klarheit in einem Beitrag für die sozialistische luxemburgische Wochenzeitung »Woxx« am Beispiel Italiens durchdekliniert, wie der Staat im Sinne einer faschistischen Renaissance ohne großes Brimborium umgestaltet wird. Die offen faschistisch agierende und sprechende Regierungschefin Giorgia Meloni beschreibe das Projekt ohne Umschweife: »Nach den Worten Melonis in einem Interview mit der Tageszeitung ›Corriere della Sera‹ ist das wohl einzig Schlechte am historischen Faschismus, dass er die Demokratie abschaffte. Es ist offensichtlich das Ziel des Postfaschismus, eine faschistische Gesellschaft, eine Regierung nach dem Präsidialprinzip (natürlich ohne Amtszeitbegrenzung) zu errichten, bei Beibehaltung gewisser demokratischer, eher: postdemokratischer Rituale wie Wahlen (Putin, Orbán, Erdoğan et cetera lassen grüßen).« Seeßlen beschreibt diesen Vorgang etwa am Aufkündigen von Sozialleistungen für Hunderttausende per SMS im Rahmen der »Melonomics«, denn »neben dem Rassismus gehört der Klassenhass zur DNA des Postfaschismus«.
Ein wichtiges Element des ideologischen Umbaus der »Demokratie« ist die Zersetzung von Kultur und Bildung, von (Geschichts-)Wissenschaft und Medien im Sinne der nationalistischen Ideologie. Noch übt die AfD einen solchen Umbau nur, wie etwa jüngst im sachsen-anhaltischen Eisleben, wo der Kreisverband die Förderung des von Insolvenz bedrohten Theaters fast verhindert hätte. Und zwar, weil Mitarbeiter*innen des Hauses bei den allfälligen Anti-rechts-Demos gesehen wurden und das Theater selbst Banner gegen Intoleranz und für Demokratie gehisst hatte. Immerhin hat die AfD verstanden, dass sich der Protest auch ohne Nennung der Partei gegen sie richtet. Nach den Kommunalwahlen werde man sein »blaues Wunder« erleben, zitiert ein Beobachter AfD-Anhänger, denen eine Art »volkspädagogisches Nationaltheater« vorschwebe, das sie demnächst mit dem Pochen auf ein ominöses »Neutralitätsgebot« in der Kultur vielleicht auch durchsetzen können.
Die Beispiele dieser Art sind Legion und sie werden nach den Kommunalwahlen noch zunehmen: Mit Entlassungen von Andersdenkenden und Neubesetzungen mit Genehmen, mit finanziellem Aushungern unliebsamer Projekte und Institutionen, der Entstehung rechter Think-Tanks, der Übernahme der Kontrolle auch über die Medien jenseits der Social-Media-Kanäle. Zunächst auf kommunaler, dann auf Landesebene und schließlich im ganzen Land. Viele der potenziell betroffenen Gruppen und Initiativen, Vereine und Einrichtungen der Jugendhilfe, der Demokratieförderung, der Solidarität mit Geflüchteten, Migrant*innen und sozial Schwachen und zum Schutz von Frauen und Mädchen und auch viele Medienvertreter*innen haben – anders als eines der zentralen Feindbilder der Rechten, die Queer-Community – noch nicht begriffen, dass sie gemeint sind mit den Umbauplänen und auf den Streichlisten stehen werden.
Schneller Umbau des Staates
Wie schnell das mitunter gehen kann, haben uns die Beispiele Ungarn und Polen gezeigt. Und wie schnell es gehen könnte, kündigt die zweite Trump-Amtszeit an, wo die Fehler der ersten Amtszeit sich nicht wiederholen sollen: Im Vorwahlkampf wird eine gründliche Säuberung des Staatsapparates angekündigt, die ultrarechte »Heritage Foundation« sammelt schon linientreuen Ersatz für Hunderttausende Staatsbedienstete, die vor die Tür gesetzt werden sollen. Das findet alles mit Ankündigung und offenem Visier statt. Dem Zuspruch der Massen tut diese Aussicht auf radikale faschistische Umgestaltung der – wie auch immer – demokratischen Verhältnisse keinen Abbruch.
Im Gegenteil, das Aufeinander-Türmen von immer mehr Beweisen der Skrupellosigkeit, der mindestens kryptofaschistischen Gesinnung und Gewaltbereitschaft der rechten Frontfiguren scheint dem Wahlsieg eher förderlich zu sein: je brutaler, rassistischer, sexistischer und rücksichtsloser die populistischen Heilsbringer auftreten, desto mehr Wähler*innen scheinen ihnen augenblicklich zuzuströmen. Das gilt für Trump ebenso wie für Björn Höcke, Hubsi Aiwanger, die Ex-Richterin und inhaftierte Reichsbürgerin Birgit Malsack-Winkemann, Robert Fico in der Slowakei, für Milei in Argentinien, Wilders in den Niederlanden, Putin, Erdoğan, Mitsotakis, Netanjahu, Duterte – you name it.
Kubitscheks Erdrutsch, den Pandemie, Ukraine-Krieg, Energiekrise und Klimawandel ins Rollen gebracht haben, scheint – trotz der beeindruckenden Proteste der zurückliegenden Wochen – kaum noch aufzuhalten, denn er trifft auf »Erschöpfung, Lähmung und Selbstbeschränkung der gesellschaftlichen Mehrheit« (Seeßlen). »Die werden sich dann schon entzaubern«, sind sich viele sicher, die das Unvermeidliche schon sehen. Auch hier klingeln die historischen Alarmglocken. Reichskanzler Franz von Papen sagte noch kurz vor der Machtübergabe an Hitler, man werde ihn an die Wand drücken »bis er quietscht«. Wir wissen: Das ist nicht geschehen.
In den 30er Jahren kippten auch reihenweise Länder in autoritäre und faschistische Regime: Österreich (1933), Estland, Lettland, Bulgarien (1934), Litauen, Griechenland (1936), Rumänien (1938) und Spanien (1939). Erfahrungen mit autoritären Regierungen machten schon ab den 1920er Jahren Ungarn (1920), Spanien (1923–1930), Portugal und Polen (1926), Albanien und Jugoslawien (1929). Damals gab es noch keine europäische Einigung. Heute gibt es die EU, in deren Parlament ebenfalls ein gewaltiger Rechtsruck bei den Wahlen im Juni bevorsteht: mit unabsehbaren Auswirkungen für die »europäische Gesellschaft« (was immer das sei).
Die jüngsten im weitesten Sinne republikanischen Massenproteste, deren Potenzial, Intention und Wirkung nicht kleingeredet werden soll, bleiben politisch amorph und vage und haben als Protest keine Repräsentanz im Parlament, sieht man mal von den Resten der Linkspartei ab, von der sich immer weniger Menschen, auch Linke, vertreten fühlen. Die bange Frage lautet: wird das, was seit ein paar Jahrzehnten »Zivilgesellschaft« genannt wird, in der Lage sein, dem Protest Dauer und diese beglückende Kraft zu verleihen. Werden daraus neue politische Angebote entstehen, die sich in parlamentarischen Einfluss jenseits der Übeltäter*innen ummünzen lassen? Geht es, kurz gesagt, noch einmal gut?
Es braucht langen Atem
Und geht das generell auch ohne eine starke Linke? Ein Ende des Niedergangs, so scheint es trotz beachtlicher Neueintritte nach dem Auszug der Wagenknecht-Entourage, noch nicht erreicht zu sein. Es steht zu befürchten, dass noch einige, wenn sie merken, dass Wagenknechts nationales Projekt bessere Umfragewerte einfährt, noch rasch die Seiten wechseln werden, wie etwa Eisenachs Oberbürgermeisterin Katja Wolf oder (Ex-)Stadtpräsident Jan Kuhnert in Neubrandenburg. Schon der Verlust des Fraktionsstatus im Bundestag hat um die 100 Mitarbeiter*innen den Job gekostet, der Einfluss in Ausschüssen, die parlamentarischen Rechte und die Redezeit sind seither stark eingeschränkt. Natürlich gehen damit auch finanzielle Einbußen einher.
Ob diese Partei nicht einen etwas radikaleren Neuanfang bräuchte als sie ihn mit der Wahl des alten Personals an der Spitze und neulich auch an der Fraktionsspitze vollzog, fragen sich viele. Vor allem aber fehlen nach wie vor und wie seit Jahren beklagt eigene starke Narrative, wie man aus dem Konformitätsdruck und der Umklammerung der herrschenden Verhältnisse auch nur ansatzweise herauskommt. Wo sind die sozialistischen Visionen einer besseren Gesellschaft, die nun – zumindest parlamentarisch – mit dem Todesfasten der Linkspartei vollends zu verschwinden drohen?
Und solange nichts dergleichen in Sicht ist, sollte eine beherzte Linke sich auf Szenarien vorbereiten, die unter ungünstigen Umständen viel schneller Wirklichkeit werden könnten, als viele immer noch hoffen. Da wird es um Selbstverteidigung gehen, um den Schutz von Bedrohten, verletzlichen Gruppen und Nicht-Privilegierten, um die Schaffung von Rückzugsräumen, Safe Spaces und resilienten antifaschistischen Communitys, die vielleicht noch Freiräume sichern können. Denn es wird ein langer Atem vonnöten sein. Und eine internationalistische Perspektive anstelle der kurzsichtigen Brille nationaler Beschränktheit. Der italienische Diktator Benito Mussolini rief 1932 das »faschistische Jahrhundert« aus: Selbst davon blieben immer noch acht Jahre, bis die Zeiten vielleicht wieder besser werden für herrschaftsfreie, emanzipatorische Ideen, Vergemeinschaftungs- und Lebensweisen.
In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.