Wenn aus Friedenssehnsucht Schlager werden

Wer das Scheitern linker Bewegungen in Deutschland verstehen will, sollte einen Blick in die Musikarchive werfen

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 6 Min.
»Gebt’s uns endlich Frieden! Frieden für die Welt!«, forderte Georg Danzer in den 80er Jahren – aber vom wem eigentlich?
»Gebt’s uns endlich Frieden! Frieden für die Welt!«, forderte Georg Danzer in den 80er Jahren – aber vom wem eigentlich?

Ein Hoch auf die Musikchronisten dieser Welt! Gepriesen seien jene unermüdlichen Menschen, die jahrein, jahraus akribisch Hitlisten zu Papier gebracht haben, um sie heute via Web der Weltöffentlichkeit zugänglich zu machen! Sie erinnern uns beispielsweise an die »Schlagerrallye«, die vor 50 Jahren auf Sendung ging, eine der ungewöhnlichsten Hörer-Charts der bundesdeutschen Radiogeschichte, die bis zum Frühjahr 1995 lief – erst auf WDR 2, dann auf WDR 1, in deren Einzugsgebiet über 20 Millionen Menschen leben.

Schon der Name war irreführend. Man benutzte das Wort »Schlager« so, wie es bis Anfang der 70er auch die »Bravo« verwendete: als Synonym für »Hit«. Doch genau das war nicht beabsichtigt. Eine wechselnde Hörerjury, die sich einmal im Monat traf, um sich durch Dutzende von Singles zu kämpfen, wählte als Neuvorstellungen häufig Stücke aus der gehobeneren Rock- und Pop-Ecke. Das konnten sogar B-Seiten oder Wiederveröffentlichungen von Oldies (Beatles oder Doors) sein.

So blieb einem manche Scheußlichkeit der Verkaufscharts erspart (Goombay Dance Band, Gottlieb Wendehals, Modern Talking). Stattdessen wurden westdeutsche Bands wie Flaming Bess (»Tanz der Götter«) und Streetmark (»Lovers«) jenseits ihrer Heimatstadt Düsseldorf bekannt – ihre besten Platzierungen waren jeweils Rang 2. Und manche Krautrock-Formation, die mit zunehmendem Alter gefälligere Klänge entwickelte, wie Wallenstein aus Mönchengladbach (»Charline« und »Don’t let it be«, beide Platz 1), erlebte auf diese Weise ihren zweiten kommerziellen Frühling.

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Doch nichts bereitete einen auf den kreativen GAU vor, der 1981/82 geschah. Während England den Pop zelebrierte und der Welt vorführte, was Synthesizer zu leisten vermochten, gab man sich im deutschsprachigen Raum mal wieder Untergangsszenarien hin, diesmal in Gestalt von befürchteten Umwelt- und Nuklearkatastrophen: »Wenn der Blitz den Himmel teilt, darauf der Donner kracht, dann weißt du endlich, was es heißt, wenn die Natur erwacht. Wenn der Baum dann knickt, und das Wasser steigt, wird der Bach zum großen Fluss, und die Weide wird zum See, wo das Vieh ertrinken muss.« Mit solchem biblischen Wald-und-Wiesen-Kitsch schaffte es die Kölner Rockband Acapulco Gold in die Top 3 der Hörercharts. Die entscheidende Frage blieb dabei unbeantwortet: Warum trägt ein Lied über die Sintflut den Titel »Sodom und Gomorrha«?

Grobschnitt hingegen hat zu viel Eichendorff gelesen: »Der Tag erwacht und leise stirbt die Nacht. Der erste Atem schmeckt noch kalt. Wir stehen hier und drüben steht die Macht. Die Morgenluft riecht noch nach Wald. Wir wollen leben.« Die letzte Zeile wird im Verlauf des Liedes 15-mal wiederholt. Irgendwann setzen Kinderchöre ein. Kein Song war 1982 in der Schlagerrallye erfolgreicher.

Während sich bei Grobschnitt »10.000 Menschen, die das nicht mehr wollen«, der sogenannten Macht entgegenstellen, macht’s der Österreicher Georg Danzer nicht unter »vier Milliarden Menschen, vier Milliarden Träume, über die Ihr lacht’s«. Es folgt der Appell an die Mächtigen: »Gebt’s uns endlich Frieden! Gebt’s uns endlich Frieden! Gebt’s uns endlich Frieden! Frieden für die Welt!« Später ist auch noch von Gott die Rede. So viel Pathos kam bei der Hörerschaft an – Danzer war wochenlang auf Platz 1.

Diese seltsame Mischung aus Furcht vor und Lust an der Apokalypse war auch in der DDR zu finden. Karat schaffte es mit folgenden Zeilen ebenfalls an die Spitze der Schlagerrallye: »Wird nur noch Staub und Gestein ausgebrannt alle Zeit auf der Erde sein? Uns hilft kein Gott, unsere Welt zu erhalten«. Dieser »Blaue Planet« kreiste um den Schwulst.

Inmitten solcher sprachlichen Sumpfblüten konnte auch die Kölschrock-Band BAP prächtig gedeihen. Mit ihr wurde Provinzialität zum Programm erhoben. Das »Veedel« (Stadtteil) musste als Gegenentwurf zur bösen kalten Welt dort draußen herhalten. Und die Hörerschaft, geübt im Kollektivkuscheln, rückte bei »Verdamp lang her« und »Kristallnaach« noch näher zusammen. Insgesamt 49 Wochen hielten sich die beiden Songs in den WDR 2-Charts. Damit verhalf die Schlagerrallye auch BAP zum bundesweiten Durchbruch.

So hatte sich am Ende der Name der Sendung doch als wahr erwiesen. Die genannten Bands mochten vorgeben, Rock und Pop zu produzieren, aber tatsächlich lieferten sie nur Schlager ab – gefühlige Poesiebuchlyrik, die man besser nicht so gründlich auf ihren intellektuellen Gehalt abklopft.

An dieser Stelle könnte man die Musikarchive beruhigt schließen. Denn jener gruselige Soundtrack, der die Friedens- und Apokalypsebewegten in den frühen 80ern begleitete, wirkte schon wenige Jahre später genauso aus der Zeit gefallen wie die Aktivisten selbst. Als Michail Gorbatschow und Ronald Reagan 1987 den INF-Abrüstungsvertrag zwischen der UdSSR und der USA unterzeichneten, besiegelten sie auch das Schicksal der Friedensbewegung.

Aber nicht das der deutschen Rührseligkeit. Der teutonische Pazifismus war nur ein Bauchgefühl gewesen, das der Publizist Wolfgang Pohrt schon 1984 als Verweis auf sein Gegenteil, »als sicheres Indiz für wachsende Kriegslust« wahrnahm, denn wo politische Haltungen reine Gefühlssache sind, fällt es leicht, das Lager zu wechseln. Was viele Ende der 90er dann auch taten.

Gefühle ändern sich eben. In der Jugend hatte man den Krieg gefürchtet, jetzt befürwortete man ihn. Ein emotionales »Nie wieder Auschwitz« (Joschka Fischer) musste 1999 als Begründung für die deutsche Beteiligung an Nato-Luftangriffen gegen Serbien reichen. Die Falschmeldungen über das serbische Vorgehen im Kosovo waren Teil der Agenda der Bundesregierung. Der Verstand blieb weiterhin ausgeschaltet.

Die germanische Gefühlsduselei – jene unangenehme Mischung aus Sentimentalität und Selbstgefälligkeit – offenbart sich aber auch auf anderen Feldern. Wer die Meldungen über die bundesweiten Demonstrationen gegen Rechtsextremismus verfolgt, machte eine irritierende Beobachtung: Hinter dem Ereignis verschwindet der Anlass – als würde man nach einem Bundesligaspiel nur über die Fans und ihre Transparente berichten. Die Zahl der Teilnehmer und deren Befindlichkeit scheint wichtiger zu sein als die Frage, wie der Kampf gegen Rechtsextremismus konkret politisch aussehen sollte.

Zu diesem Eindruck tragen die Demonstranten leider auch selber bei. Bei einer »Nie wieder ist jetzt«-Großveranstaltung in Trier Ende Januar ließ sich der ehemalige Oberbürgermeister und Ex-Staatssekretär Klaus Jensen (SPD) dazu hinreißen, in die Menge ein suggestives »Wollt Ihr (…)?«, »Wollt Ihr (…)?«, »Wollt Ihr (…)?« hineinzurufen, was diese mit einem begeisterten »Nein!«, »Nein!«, »Nein!« erwiderte. Da zuckte man zusammen und wähnte sich in anderen Zeiten. Nur den Mitgrölern selbst fiel nicht auf, dass sie hier gerade ein Lehrstück in Massenpsychologie ablieferten – genau das wirft man ja den Rechten vor. Dazu passt auch, dass die sozialen Netzwerke mit Demo-Fotos vollplakatiert werden, deren einzige Botschaft lautet: »Ich war dabei!«

Dieser Narzissmus jedoch kommt einem allzu vertraut vor. Auch damals, in den frühen 80ern, erschöpfte sich die Berichterstattung über die Friedensdemos in eindrucksvollen Zahlen und beeindruckten Demonstranten, die voller Stolz berichteten, Teil eines Megaevents gewesen zu sein (natürlich drückten sie es anders aus, mehr so Grobschnitt-/Georg-Danzer-mäßig). Der Rest der Geschichte ist bekannt. Die Demonstrationen blieben folgenlos; die »Nachrüstung« nahm ihren Lauf. Aber so ist das halt, wenn vor lauter großen Gefühlen die gedankliche Klarheit auf der Strecke bleibt.

www.hessencharts.de/wdr/schlagerrallye.htm

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