Skandinavien: Klassenfrage Wohnen

Selbst in den reichsten Ländern Europas ist Wohnen für Arbeiter nicht bezahlbar

Schweden ist nicht nur Bullerbü. Wohnblocks in Stockholm
Schweden ist nicht nur Bullerbü. Wohnblocks in Stockholm

Steigende Mieten, Wohnraummangel, Gentrifizierung und Vertreibung von Menschen mit niedrigem Einkommen. Berliner*innen stehen, was das Wohnen betrifft bekanntermaßen vor enormen Problemen. Aber das alles betrifft nicht nur die Bundeshauptstadt, sondern auch andere europäische Metropolen, selbst in den wohlhabenden skandinavischen Ländern. Der neoliberale Kahlschlag, der Wohnen zur Ware macht, hat auch dort um sich gegriffen. »nd« sprach im Rahmen einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung und des Deutschen Gewerkschaftsbunds DGB am 13. März mit Gewerkschafter*innen aus Stockholm, Oslo und Helsinki über die Probleme, die Mieter*innen und die Arbeiterklasse in den jeweiligen Städten mit Miethaien, mangelnder Regulierung, Wohnungsnot und immer weiter steigenden Mieten hat.

Stockholm – ein Leben lang warten
auf eine Wohnung

»Die Situation für Menschen aus der Arbeiterklasse ist schwierig. Es ist schwer, auf dem Wohnungsmarkt Fuß zu fassen«, meint Carina Paulson vom schwedischen Gewerkschaftsdachverband LO, Kreis Stockholm, gegenüber »nd«. Entweder man muss sich jahrelang auf eine Warteliste begeben, oder sehr viel Geld in die Hand nehmen.

Früher habe es in Stockholm und Umgebung viel mehr Mietwohnungen gegeben, aber diese seien Anfang der 2000er in Eigentumswohnungen umgewandelt worden, so Paulson weiter. Für Arbeiter*innen sind diese unbezahlbar. Um überhaupt einen Kredit für einen Kauf aufnehmen zu können, brauche man zwischen 30 000 und 40 000 Euro, meint Paulson. »Und die Arbeiterklasse hat nicht so viel Geld« Der Mangel an bezahlbaren Mietwohnungen auf dem Markt drückt sich in absurd langen Wartezeiten aus. »Man muss sich im Grunde schon bei der Geburt um eine Wohnung bewerben, damit man mit 18 Jahren eine Wohnung in Stockholm bekommt.« Die Alternative: Mehr Geld in die Hand nehmen, dann geht es schneller. Oder auf dem Schwarzmarkt einen Mietvertrag kaufen.

Aber wer kann sich das leisten? Karin Åkersten, auch von LO Stockholm, pflichtet ihrer Genossin bei: »Neue Häuser, die gebaut wurden, sind sehr teuer. Um die Miete für ein Zimmer mit Küche zu bezahlen, braucht man zwei Erwachsene mit Einkommen, wenn man zur Arbeiterklasse gehört.«

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

In Stockholm zeichnet sich deswegen ein neuer Trend ab. Während früher immer aus anderen schwedischen Städten, Leute in die Hauptstadt gezogen seien, zögen die Leute jetzt aus Stockholm weg, berichtet Åkersten. »Die Leute fragen sich: Warum sollte ich dort wohnen, wenn ich am Ende des Monats weniger Geld habe, weil es so teuer ist, dort zu wohnen?« Aber die Möglichkeit im Home-Office zu arbeiten steht nicht allen offen. »Wir brauchen Wohnraum für unsere Arbeiter. Wir brauchen Plätze für unsere Jugend und für die Älteren.«

Oslo – kein Eigentum für Arbeiter*innen

Selbst im nach Zahlen des Internationalen Währungsfonds drittreichsten Land der Welt, Norwegen, ist Wohnen eine Klassenfrage. Gleichzeitig gibt es eine Besonderheit: »Seit dem Zweiten Weltkrieg haben sowohl Konservative als auch Sozialdemokraten darin übereingestimmt, dass jeder seine eigene Wohnung besitzen sollte«, meint Petter Villensen, vom Gewerkschaftsdachverband LO im Gespräch mit »nd«. Aber das wird nicht für die gesamte Bevölkerung erreicht: »Gut eine Million Menschen wohnt zur Miete – das ist ein Fünftel der Bevölkerung«, erklärt Villensen. Das seien nicht nur Student*innen oder Menschen in Sozialwohnungen, sondern auch viele Arbeiter*innen, die keinen Zugang zum Markt haben.

Und der Anteil derer, die sich kein Eigentum leisten können, wird größer. »Gewerkschaften haben den sogenannten ›Krankenschwester-Index‹ aufgestellt«, erzählt Villensen weiter. Mit diesem wurde berechnet, wie viele der Wohnungen auf dem Markt sich eine alleinstehende Krankenschwester mit ihrem Gehalt kaufen könnte. Ergebnis: »In Oslo kann sich eine Krankenschwester nur ein Prozent der Wohnungen kaufen. 99 Prozent gehen an Menschen, die mehr verdienen«, empört sich Villensen. Eine Wohnung in Oslo zu kaufen sei nur möglich, wenn man schon vorher eine besessen habe. »Für einen Facharbeiter ist so gut wie unmöglich, sich in Oslo zu etablieren«, meint der Gewerkschafter.

Muckefuck: morgens, ungefiltert, links

nd.Muckefuck ist unser Newsletter für Berlin am Morgen. Wir gehen wach durch die Stadt, sind vor Ort bei Entscheidungen zu Stadtpolitik – aber immer auch bei den Menschen, die diese betreffen. Muckefuck ist eine Kaffeelänge Berlin – ungefiltert und links. Jetzt anmelden und immer wissen, worum gestritten werden muss.

Dass die Situation so ist, wie sie ist, liege an den Liberalisierungen der 80er Jahre, meint Villensen weiter. Vorher sei das Eigentum von Wohnungen genossenschaftlich organisiert gewesen und der Verkaufspreis festgelegt. »Seither gehen die Preise einfach nur nach oben.« Eine Wohnung zu kaufen sei so zu einem Investment geworden, beklagt Villensen. »Wenn man reiche Eltern hat, dann kann man das vielleicht machen.«

Der Fokus auf Eigentumsbildung führt auch dazu, dass das Mietwesen unreguliert ist. »Es gibt fast keine Regulierungen für Leute die mieten«, kritisiert Villensen. Viele Leute würden einfach Zimmer in ihren Wohnungen oder sogar ihre Keller vermieten, ohne dass irgendwelche Gesetze befolgt würden. So gesehen sei Mieten auch möglich. Aber man zahle dann genauso viel Geld für die Miete, wie man für Kreditraten zahlen würde, wenn man sich eine Wohnung kaufe. »Das ist Geld aus dem Fenster werfen«, meint Villensen.

Helsinki – Angriffe auf die Arbeiterklasse

»Ich möchte vielleicht mal etwas Positives sagen: Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal einen obdachlosen Menschen in Helsinki gesehen habe«, meint Hannele Ugur vom Dachverband der finnischen Gewerkschaften SAK zu »nd«. Es gebe zwar Genoss*innen aus der Gewerkschaft, die eine zeitlang keine Wohnung finden würden und bei Freund*innen auf der Couch wohnen, »aber niemand lebt auf der Straße.«

Aber auch in Finnland haben Mieter*innen Schwierigkeiten, über die Runden zu kommen: »Das aktuell größte Problem sind die Stromkosten«, meint Ugur. Es gebe viele Haushalte, die mit Strom heizen würden und wo sich die monatlichen Heizkosten auf bis zu 1000 Euro pro Monat belaufen. Selbst mit finnischen Gehältern unbezahlbar.

Gleichzeitig hat die 2023 angetretene Regierung rund um den konservativen Ministerpräsidenten Petteri Orpo erhebliche arbeiterfeindliche Reformen eingeleitet. Neben einer Einschränkung des Streikrechts für Gewerkschaften, vor allem im Bereich des politischen Streiks, und zahlreichen Kürzungen bei Sozialleistungen, soll auch das Wohngeld, insbesondere für Teilzeitbeschäftigte gekürzt werden. »Sie kürzen das, weil sie meinen, dass die Leute einfach in kleinere Wohnungen ziehen sollen«, meint Gewerkschafterin Ugur. Gleichzeitig will die Regierung erreichen, dass mehr Leute Vollzeitstellen antreten. »Die Leute bekommen aber nur Verträge mit 20 Stunden die Woche und können davon nicht leben«, meint Ugur. Die Alternative sei dann mehrere Jobs zu machen – »aber dann hat man nichts anderes im Leben außer Arbeit.«

Die Gewerkschaften im SAK lassen sich das nicht bieten. Seit dem 11. März streiken die Mitgliedsgewerkschaften gegen die Maßnahmen der Regierung, vor allem an Häfen und bei der Eisenbahn, wie die Gewerkschaft auf ihrer Webseite ankündigte. Knapp 7000 Angestellte beteiligen sich an den Streiks. Für die Finn*innen steht viel auf dem Spiel. Laut dem »Weltglücksbericht« von 2023 ist Finnland das glücklichste Land der Welt. Gemessen wurde bei diesem die subjektive Einschätzung des eigenen Lebens, der im Land wohnenden Bevölkerung. »Die neue Regierung wird das ändern. Wir werden nicht mehr die Nummer 1 sein«, befürchtet Ugur.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.