Nahost-Debatte: Der Raum zwischen schwarz und weiß

Schwierige Wahrheiten müssen im Politischen wie im Privaten ausgesprochen werden, meint Christoph Ruf

Julius Hirsch war ein deutscher Fußballnationalspieler. 1943 wurde er in Auschwitz ermordet. Zuvor waren die meisten seiner Vereinskollegen, seine vermeintlichen Freunde, Nachbarn und Geschäftskollegen, von ihm abgerückt. 1933 bis 1945 waren gute Zeiten für Opportunisten, Fanatiker und Sadisten.

81 Jahre später fand in Hirschs Heimatstadt Karlsruhe eine Podiumsdiskussion statt, an der sein Enkel Andreas teilnahm. Als der Moderator fragte, ob Rassismus und Antisemitismus sich gegenseitig bedingen, war ich froh, dass Hirsch die Antwort übernahm. Schließlich kann man darauf eine Sekunde oder eine halbe Stunde antworten, letzteres hätte das Format gesprengt. Was Hirsch antwortete präzise; es war die Überleitung zu einem beeindruckenden Plädoyer. Immer dann, wenn eine Minderheit diskriminiert, verfolgt und bedroht werde, so Hirsch, ende Demokratie. Wenn Ideologie die Menschlichkeit überlagere, ebenfalls.

Ziemlich zeitgleich äußerte sich Omri Boehm, dessen Buch »Radikaler Universalismus« ich mir heute kaufen werde, in anderem Duktus in eine sehr ähnliche Richtung. Es könne »keine deutsch-jüdische Freundschaft geben, wenn sie in diesen dunklen Zeiten keinen Platz für die schwierigen Wahrheiten hat, die im Namen der jüdisch-palästinensischen Freundschaft gesagt werden müssen«, sagte Boehm. Und: »Wegen der Freundschaft muss die Wahrheit nicht geopfert werden, harte Wahrheiten müssen in den Vordergrund gestellt werden, denn wir sollen Freunde bleiben.« Er formuliert damit einen politischen Begriff von Freundschaft, der sich auf die private Freundschaft übertragen lässt. Die hat eine nicht-diskursive Komponente und vielleicht ist die sogar die entscheidende. Wenn man mit einem Menschen gerne zusammen ist, wenn er einen auch am dritten gemeinsamen Urlaubstag nicht nervt, ist er schon weit mehr als das, wofür es im Deutschen kein gutes Wort gibt, denn Kumpel oder Kollege treffen es nicht. Ich habe jedenfalls keine Freunde, mit denen ich nicht schon stunden-, tage-, wochenlang diskutiert hätte – über Privates, Politisches, Bücher: über Wichtiges. Schwarz und weiß sind keine Kategorien unter Freunden. Leider aber derzeit absolute Modefarben.

Christoph Ruf

Christoph Ruf ist freier Autor und beobachtet hier politische und sportliche Begebenheiten.

Schade, dass es nie lange dauert, bis kluge Sätze wie die von Hirsch und Böhm im verbreiteten Bedürfnis nach Eindeutigkeit untergehen. Rund um die Leipziger Buchmesse warben dann auch beide Lager im Nahost-Konflikt um hundertprozentige Zustimmung, hingen Aufkleber an Laternenmasten, die »Antifa heißt Pro-Israel« postulierten und genauso Minderkomplexes vom anderen Lager. Und natürlich dauerte es in Zeiten, in denen Tote oft als Kollateralschäden gelten, nicht lang, bis der erste Politiker etwas sagte, was an Unmenschlichkeit kaum zu überbieten ist. Nach dem Anschlag in Moskau, der über 130 Menschen das Leben kostete, hat Michael Roth (SPD) allen Ernstes davor gewarnt, »Russland eine zu große Opferrolle« zuzuschreiben: »Wer Terror sät, wird Terror ernten.«

Politikern, denen die Sensibilität fehlt zu begreifen, dass Bomben unschuldige Menschen töten (nur selten Diktatoren oder »den Terror«), muss man den baldigen Ruhestand wünschen. Roth wünsche ich dabei Muße für Lektüre, zu der er bislang nicht gekommen sein kann. Das Buch von Omri Boehm sei empfohlen. Oder ein Geschichtsbuch der 9. Klasse.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.