John Niven: Jeder sollte Champagner und Rolex-Uhren haben

Der britische Schriftsteller John Niven über soziale Prägungen und nicht verloren gegangene Überzeugungen

  • Interview: Marit Hofmann
  • Lesedauer: 7 Min.
John Niven liest auf der Lit Cologne.
John Niven liest auf der Lit Cologne.

Herr Niven, Ihr Buch »O Brother« beschreibt sehr gut, wie man Mitglied eines Expertenclubs wird, wenn man in seinem Umfeld Erfahrungen mit Suizid gemacht haben. Stimmen Sie zu, dass es etwas gibt, was die Psychologie posttraumatisches Wachstum nennt?

Ja. Wie die Buddhisten sagen: Mit dem Leiden kommt die Weisheit. Suizid ist eines dieser Themen, bei denen man einen Doktortitel erwirbt, nachdem es passiert ist. Man liest ein ganzes Regal voller Bücher, denkt viel darüber nach und versucht sich damit abzufinden. Wenn man früher gewusst hätte, was man später weiß, hätte man vielleicht etwas ändern können. Aber das ist nicht immer der Fall. Für manche Menschen ist ein Punkt erreicht, besonders für Männer um die40, die wie mein Bruder Gary das Gefühl haben, im Leben versagt zu haben. Man hat dann noch eine ganze Menge Weg vor sich. Aber man ist alt genug, um aus den Augen verloren zu haben, wer man war, als man jung war. So fühlt man sich in der Mitte seines Lebens gestrandet.

Erst als ich das Buch schrieb und einen Schritt zurücktreten konnte, wurde mir klar, dass ich selbst ziemlich nah an einem dunklen Ort war. Ich war Ende30, hatte alle Brücken in der Musikindustrie abgebrochen, und es gab keine Garantie, dass ein Buch von mir veröffentlicht werden würde oder dass ich, falls es veröffentlicht würde, erfolgreich genug wäre, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Interessanterweise ging es mit Garys Leben zu diesem Zeitpunkt aufwärts. Ich war auf dem Boden der Tatsachen angekommen. Aber aus welchem Grund auch immer verfügte ich im Gegensatz zu meinem Bruder über einige Lebenskompetenzen, Skills und genügend Kraft, die mir halfen, das zu überstehen.

Interview

John Jeffrey Niven, 1966 in Irvine, Schott­land, geboren, studierte an der Univer­sity of Glasgow und arbeitete zunächst als Musik­manager für ver­schie­dene Platten­firmen, bevor er sich ab 2002 gänzlich dem Schreiben widmete. Sein Erstlings­werk »Music from Big Pink« spielte noch in der Musik­szene, im Umfeld von Bob Dylan. 2008 landete er mit dem Roman »Kill Your Friends« einen inter­natio­nalen Best­seller, der auch verfilmt wurde. Dieser Tage erschien von ihm auf dem deutschen Buch­markt eine zutiefst persön­liche Geschichte: »O Brother«.

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Warum haben Sie eine Doppelbiografie über sich und Ihren Bruder geschrieben und kein Buch über alle drei Geschwister?

Meine Schwester ist wie eine Verbündete für mich und als solche in dem Buch schon präsent. Aber sie war ein kleines Kind, als wir Teenager waren; und als ich von zu Hause wegging, um an die Universität zu gehen, war Linda erst zehn oder elf. Mein Bruder und meine Mutter haben Figuren in einigen meiner Romane inspiriert, und meine Schwester beschwert sich oft: »Warum bin ich nicht in deinen Büchern?« Ich sage dann: »Weil du zu vernünftig bist, zu nett, zu anständig. Das kann ein Schriftsteller nicht gebrauchen.«

Sie scheinen mit mehr Empathie auf die Arbeiterklasse zu schauen als etwa Didier Eribon und andere Autoren, die ihr Herkunftsmilieu ebenfalls hinter sich lassen konnten.

In Großbritannien wird man gern beschuldigt, ein Champagner-Sozialist zu sein. Ich sage dann immer: »Ich bin ein Prosecco-Marxist.« Vielleicht mache ich mir da etwas vor, aber ich sehe mich immer noch als schottisches Arbeiterklassenkind, als Sozialist. Das ist Teil meines Wesens. Ich wusste nicht, was Knoblauch ist, bis ich an die Universität kam. Dann trifft man Leute aus der Mittelschicht, die Dinnerpartys veranstalten und in nette Restaurants gehen. Und nach einem Jahrzehnt stellt man plötzlich fest, dass man selbst zu diesen Leuten gehört.

Ich glaube nicht, dass es egal ist, wie viel Geld man verdient. Ich habe das Glück, viel zu verdienen, und ich zahle gerne viele Steuern. Politisch sind meine Ansichten immer noch eher so, wie ich sie mit 17, 18Jahren hatte. Jeder sollte Champagner und Rolex-Uhren haben.

Homophobe Beschimpfungen Ihres Bruders problematisieren Sie nicht sonderlich.

Es ist nicht meine Aufgabe, in einem Buch ein Urteil darüber abzugeben. Das war die Art, wie er gesprochen hat. Und wir begeben uns auf ein gefährliches Terrain, wenn du in Klammern schreibst, dass das eine schreckliche Sprache ist. Jeder, der ein bisschen Geschmack und Verstand hat, weiß, dass man so etwas nicht sagen sollte. Aber als Schriftsteller hat man die Verantwortung, die Menschen so wiederzugeben, wie sie sind.

Ich schreibe gerade an einem Roman, in dem eine unglaublich unkorrekte Figur aus der Arbeiterklasse vorkommt, die nicht weit von meinem Bruder entfernt ist. Man nimmt diese Archetypen des Lebens, und einer der Mechanismen, mit denen komische Literatur funktioniert, ist die Übertreibung. Einige der schrecklichsten Figuren in der Literatur sind die witzigsten.

Warum machen Sie in »O Brother« das Konstruierte Ihrer Erzählung deutlich und sprechen immer wieder die Lesenden direkt an?

Viele der Schriftsteller, die ich mag, arbeiten mit diesem Durchbrechen der vierten Wand. Nabokov tut es, Martin Amis tut es. Ab und zu möchte ich den Leser an der Schulter berühren, als würde ich sagen: Wir stecken da gemeinsam drin. Mein Vater hat in seinem Leben nie ein Buch gelesen. Aber meine Mutter war immer eine gefräßige Leserin und macht dabei keinen Unterschied zwischen Trash und gutem Zeug. Ich weiß noch, wie sie mich mit fünf in die Stadtbücherei brachte und mir mein erstes Buch holte. Ich habe eine Leidenschaft für die Leseerfahrung, den Vertrag, den man mit dem Leser hat, und die Verantwortung als Schriftsteller.

Es ist gleichzeitig eine Methode zu sagen: Trau nie dem Erzähler. Sie sind in dem Buch sehr selbstkritisch.

Obwohl mein Bruder in dem Buch schlecht wegkommt, kommt darin niemand schlechter weg als ich.

Warum war es Ihnen ein Bedürfnis, Abschiedsworte, die Gary nie gesagt hat, im abschließenden inneren Monolog auszusprechen?

Über das letzte Kapitel habe ich mir Sorgen gemacht, und das tue ich immer noch. Meine Agentin in Großbritannien sagte: »Du kannst dich nicht in Garys Lage in der letzten Nacht versetzen und behaupten zu wissen, was er denkt oder fühlt.« Das verstehe ich. Gleichzeitig kannte ich meinen Bruder sehr gut, und ich denke, dass alle Gründe und Gefühle, die er am Ende seines Lebens hatte, genau dargestellt werden. Alle Überlebenden fragen sich, was genau in den letzten Stunden passiert ist. Für mich war es eine Art Katharsis zu versuchen, diese Frage für meinen Bruder zu beantworten.

Der andere Grund war ein technischer. Es mag arrogant sein, aber als Romancier meinte ich diese andere Ausrüstung zur Verfügung zu haben, die ein Sachbuchautor vielleicht nicht hat, um in die Schuhe von jemandem zu schlüpfen. Und ganz am Ende habe ich hingeschrieben, was ich gern glauben würde. An diesem Punkt dachte ich: Verklag mich, erschieß mich, es ist mir egal. Ich hatte einfach den Instinkt, Gary am Ende dieser 400 Seiten, in denen ich die Leser durch sein Leben mitgenommen habe, ein bisschen Frieden zu wünschen.

Ich habe diese Annäherung im letzten Kapitel auch als einen Akt der Empathie gelesen. Auf der anderen Seite halten Sie es mit Graham Greene, der sagte, als Autor brauche man einen Eiszapfen im Herzen.

Auch Joan Didion meinte, dass wir Schriftsteller immer jemanden verraten. Du hast stets das Notizbuch gezückt – das ist der Job. Wenn ich im Buch beschreibe, wie ich vom Sterbebett meines Bruders ins Bad gehe, um mir Notizen zu machen, kann ich mir vorstellen, dass es eiskalt wirkt, aber ich wusste damals, dass ich irgendwann darüber schreiben musste.

In Ihren Romanen haben Sie stets viel auf Komik gesetzt. Werden Sie jetzt ein anderer, ernsterer Autor?

Ich glaube nicht, dass ich das kann. Ich fand es schwierig, »O Brother« zu schreiben, denn meine Standardeinstellung ist die Komödie. Ich schreibe lieber drei Romane als ein weiteres Sachbuch. Sobald ich bei einem Roman weiß, wer die Figuren sind und wie sie miteinander reden, macht es mir Spaß. Bei einem Sachbuch fällt es mir viel schwerer, den Tonfall beizubehalten.

Ich habe auch eine Zeit lang darüber nachgedacht, die Geschichte meines Bruders in einem Roman zu verarbeiten. Aber das Gefühl überwog, dass dies ein Sachbuch sein musste. Vielleicht hatte nicht jeder Leser jemanden in seiner Familie, dessen Leben so dramatisch endete wie das meines Bruders, aber viele wissen, wie es ist, einen schwierigen, chaotischen Verwandten oder Freund zu haben, sodass jeden Moment das Telefon klingeln könnte, weil er wieder etwas Verrücktes getan hat.

Unsere Geschichte von zwei Jungen aus demselben Arbeiterhaushalt, die fast identisch aufgewachsen sind und sich trotzdem so unterschiedlich entwickelt haben, handelt davon, wie der eine zum schwarzen Schaf der Familie wurde. Man merkt irgendwann, dass man all die Fragen nicht vollständig beantworten kann, aber es ist interessant, sie zu erforschen. Dieses Buch wird trotzdem hoffentlich eine einmalige Sache bleiben. Ich bin fast fertig mit meinem neuen Roman, einer Art schwarze Komödie. Wir sind dann wieder auf der sicheren Seite.

John Niven: O Brother. A. d. schott. Engl. v. Stephan Glietsch. btb, 400 S., br., 24 €.

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