In Chile regiert die Angst

Die »wachsende« Unsicherheit bringt die Linksregierung Boric in Zugzwang

  • René Thannhäuser, Santiago de Chile
  • Lesedauer: 4 Min.
Armeepatrouillen sollen in Chile wie hier in Viña del Mar das Gefühl von Sicherheit vermitteln. Nach den Bränden wurde dort im Februar eine Ausgangssperre verhängt.
Armeepatrouillen sollen in Chile wie hier in Viña del Mar das Gefühl von Sicherheit vermitteln. Nach den Bränden wurde dort im Februar eine Ausgangssperre verhängt.

»Manche sagen, es sei eine Hysterie, aber Chile ist nicht mehr wie früher«, erklärt Sergio bei der Ankunft an seinem Haus. »Wir versuchen bei Dunkelheit nicht mehr das Haus zu verlassen«, fügt Aida hinzu. Das Mittdreißiger-Paar wohnt in Huechuraba, einer wohlhabenden und beschaulichen Gemeinde am nördlichen Stadtrand von Chiles Hauptstadt Santiago.

Die Nebenstraße, in der die beiden wohnen, ist durch ein ständig geschlossenes Tor von der Hauptstraße getrennt, wie es immer häufiger in Chile der Fall ist. Die Mauer um das Haus ist hoch, auf ihr thront Stacheldraht. Bei der Ankunft bellen die beiden stattlichen Hunde des Paares zur Begrüßung und stimmen so in den lauten Chor der Hunde der Nachbarschaft ein. »Das sind Maßnahmen, die mittlerweile leider notwendig sind«, versichert Sergio.

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»Sicherheitskrise« in Chile von Medien befeuert

Die investigativ-journalistische Medienorganisation InsightCrime hat im Dezember 2023 einen ausführlichen Bericht über die »Sicherheitskrise« in Chile veröffentlicht. Seit 2019 ist die Mordrate tatsächlich konstant gestiegen, auf einen Rekordwert von 4,6 Ermordeten auf 100 000 Einwohner*innen im Jahr 2022. Über 60 Prozent der Toten können hierbei unmittelbar auf gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen verfeindeten Gruppierungen des mit dem internationalen Drogenhandel verbundenen organisierten Verbrechens zurückgeführt werden. Auch die Gesamtzahl aller registrierten Verbrechen ist seit 2021 leicht gestiegen, so InSight Crime. Doch: »Die Zahlen sind immer noch niedriger als in den Jahren vor der Covid-19-Epidemie.« Anfang 2024 hat die Kriminalpolizei von Chile die Mordrate des Vorjahres bekannt gegeben: Sie ist im Vergleich zum Rekordjahr 2022 leicht gefallen. Chile war 2023 noch vor den USA das Land mit der viertniedrigsten Mordrate des amerikanischen Kontinents.

Wie das junge Paar sehen es viele Chilen*innen. Politik und Medien sprechen mittlerweile häufig von einer »Sicherheitskrise«. Dabei galt Chile bis vor Kurzem nach Kanada als das zweitsicherste Land des amerikanischen Kontinents. Doch die offiziellen Statistiken vermitteln ein weitaus differenzierteres Bild als viele Chilen*innen und die reißerische Berichterstattung der Mehrheit der Medien.

Im Kontrast zu diesen Zahlen steht die öffentliche Meinung in Chile. 80 Prozent der Chilen*innen halten die Kriminalität für das drängendste Problem des Landes und immer mehr befürworten eine Politik der »harten Hand«. Und eine Mehrheit der Chilen*innen meint auch die Ursache für die vermeintlich zunehmende Kriminalität zu kennen: die in den vergangenen fünf Jahren in das Land gekommenen Migrant*innen aus Haiti, Kolumbien und vor allem Venezuela.

Migranten sind nicht krimineller als Einheimische

Medina González, Kriminologin von der Universidad Central de Chile, erklärte zum vermeintlichen Zusammenhang von Migration und Kriminalität im Interview mit InSight Crime: »Die Daten des Innenministeriums und der Staatsanwaltschaft zeigen, dass Ausländer in Chile schwere Delikte nicht in einem höheren Maß begehen als Inländer.«

Doch insbesondere seitdem 2021 erstmalig Aktivitäten von Tren de Aragua, der mächtigsten Gang Venezuelas, auf chilenischem Territorium festgestellt wurden, arbeiten chilenische Sensationsmedien und die chilenische Rechte fleißig am Bild vom kriminellen Ausländer.

Mit der öffentlichen Meinung im Rücken ist es der rechten Opposition ein Leichtes, den linken Präsidenten Gabriel Boric vor sich herzutreiben. Nach dem krachend gescheiterten Verfassungsprozess und ohne linke Mehrheit im Parlament, hat Boric einen erkennbaren Rechtsschwenk vollzogen.

Dabei war er nach den Massenprotesten von 2019 mit der Hoffnung auf einen sozialen Wandel ins Amt gewählt worden. Doch nur noch eine kleine Minderheit sieht die Ungleichheit als größtes Problem an. So hat Boric in Regierungsgewalt eine Sicherheits- und Migrationspolitik umgesetzt, die er als Oppositionspolitiker noch ablehnte. Bei einigen dieser Vorhaben hatte er nicht einmal alle Stimmen seiner linken Regierungskoalition hinter sich.

So ist von der politischen Aufbruchsstimmung von 2019 in Chile nichts mehr zu spüren. Nach aktuellen Meinungsumfragen genießt Boric nur noch Zustimmungswerte von 30 Prozent. Für die Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr sagen Umfragen einen Zweikampf zwischen der rechten Kandidatin Evelyn Matthei und dem Rechtsextremen José Antonio Kast voraus. Die privaten und öffentlichen Medien leisten dabei Dauerwerbung für die Law-and-Order-Politik der beiden. Mit Berichten über auf Handtaschen von Seniorinnen spezialisierte Diebesbanden, Obdachlose mit Schusswaffen und venezolanische Drogendealer. Chilen*innen wie Aida und Sergio sehen sich so täglich bestätigt in ihrer Sehnsucht nach einer Regierung der »harten Hand«.

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