Schröder-Doku: Alphatier im Unruhestand

Die Doku »Außer Dienst?« kommt trotz intensiver Kamerabegleitung nie an Gerhard Schröder heran. Entlarvung der Extraklasse

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 4 Min.
Wenn das Ego zum Handicap wird: Gerhard Schröder in seiner Paraderolle als Lebemann.
Wenn das Ego zum Handicap wird: Gerhard Schröder in seiner Paraderolle als Lebemann.

Ein Golfplatz. Natürlich. Wer Einfluss hat oder geltend macht, wer Macht ersehnt oder ausübt, wer Strippen zieht oder zerschneidet, der (und sehr viel seltener die) fühlt sich auf feudalem Sportgrün nicht nur zu Hause, sondern geschützt. Vor plebejischer Impertinenz zum Beispiel. Deshalb ist es plausibel und kurios zugleich, dass der feudalste aller deutschen Politiker außer Christian Lindner den Pöbel am ersten Abschlag seines Hannoveraner Heimatclubs zur ersten Audienz bittet. Auftritt: Gerhard Schröder.

Wobei der Filmemacher Lucas Stratmann nur nebenherläuft. Mitspielen? Gott bewahre! Aber immerhin lässt sich der Ex-Kanzler ein halbes Jahr vom Ex-Untertan durch sein extremes Altenteil begleiten. Oder wie es der preisgekrönte NDR-Journalist beim Passivgolfen zum Auftakt der Langzeitbegleitung aus dem Off formuliert: »Gerhard Schröder hat sich auf unseren Film eingelassen.« Wobei man nach einer Stunde ARD-Porträt sagen sollte: Lucas Stratmann hat sich auf ihn eingelassen – den Paria der exekutiven Elite.

Regierungschef, Parteivorsitzender, Sozialdemokrat, Staatsmann – alles a. D., aber mit einem Ego, größer als der Amtssitz von Wladimir Putin, dem Schröder kurz nach dem Überfall auf die Ukraine seine Aufwartung machte. Als Gas-Lobbyist eines brutalen Diktators kein Amtsträger mehr, aber die einzige Persona non grata der deutschen Politik ohne AfD-Parteibuch: Mit fast 80 kommt das Alphatier gut rum im globalen Wildgehege.

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Den Titel der »Gerhard-Schröder-Story«, die Stratmann mit Archivbildern dieser Auf- und Abstiegskarriere anreichert, versieht das Erste daher mit Fragezeichen: »Außer Dienst?« Doch mag der Betitelte Staatsämtern und Parteiwürden so rigoros enthoben sein, dass ihn die SPD aus jeder Ahnengalerie strich – sein Wort, so sieht er das, hat weiterhin Gewicht. Und zwar ein so gewaltiges, dass Schröder dem NDR sogar die Drehorte vorgibt.

Schröder beim Golfen und Schröder beim Tafeln, Schröder in Hamburg und Schröder in China, Schröder auf der Feier von 33 Jahren Deutscher Einheit und Schröder auf der Feier von 60 Jahren SPD-Mitgliedschaft. Genau dorthin, zum Ortsverein in Hannover, folgt ihm Stratmanns Team auch, und wir sehen einen Kontrollfreak alter Schule, der die Zügel verlorener Macht umkrampft wie ein Jockey, dem das Pferd durchgeht. Klingt angespannt – würde er dabei nicht die Lockerheit eines gemütlichen Ausritts ausstrahlen.

Schwer zu fassen dieser Autodidakt männlicher Macht. Selbst für einen Filmemacher, dessen gefeiertes Porträt »Kevin Kühnert und die SPD« beweist, wie nah er selbst unnahbaren Polit-Strategen kommt. Dieser Porträtierte allerdings lässt Stratmann fast 60 intensiv gefilmte (Kamera: Sven Wettengel), klug montierte (Schnitt: Tim Rieckmann), dezent vertonte (Musik: Christopher Dierks) Minuten tief in den Unruhestand vordringen – aber keinen Millimeter an sich heran.

Was klingt, als sei es krachend gescheitert, ist allerdings ein sehenswerter Scoop. Denn Schröders Distanz, die er maliziös lächelnd zwischen Beobachtungssubjekt und Berichtsobjekt legt, entlarvt Letzteres mit jeder Szene als Fossil einer sterbenden Art Macho-Männer, für die Reflexion Schwäche ist und Selbstkritik krank. Die SPD-Führung? »Armselige Gestalten!« Ihr Generalsekretär? »Ein armer Wicht!« Eigene Fehler? »Bloß Entwicklungen!« Dagegen Schröder: »Manchmal ’n bisschen anders als andere«, entscheidet er, »was ich für richtig halte.« Zum Beispiel, Stratmann wie einen Praktikantenreporter abzukanzeln, den er bei praktisch jeder Frage unterbricht.

Stratmann: »Es gibt ja wirklich viele Berichte, die …«

Schröder: »Ich setzte das fort, was ich als Kanzler auch gemacht habe!«

Stratmann: »Haben Sie Wladimir Putin gefragt, wieso er das überhaupt angefang…«

Schröder: »Na hör’nse mal, wir machen hier doch kein Märchen!«

Stratmann: »Haben Sie diese Debatte Ihnen gegenüber als ungerecht em…«

Schröder: »Mindestens das, ich habe viele Ungerechtigkeiten erdulden müssen!«

Stratmann: »Es gibt Stimmen in Deutschland, dadurch mache man sich erpress…«

Schröder: »Diese Berichterstattung verstehe ich nicht!«

Stratmann: »Lassen Sie mich einmal ausred…«

Schröder: »Nein!«

So geht es von der ersten bis zur 59. Minute. Und Schröders fünfte Frau So-yeon filmt all das unablässig mit dem Smartphone. Es sei denn, sie zeigt wie eine Generalstabsleiterin laminierte Gesprächsprotokolle chinesischer Handelsvertreter oder führt die Gäste durch Gerhard Schröders Heim voller Gerhard-Schröder-Devotionalien. Als Büste, als Foto, als Gemälde, als übermächtiges Ego, das wir nach dieser Dokumentation ein bisschen besser verstehen. Ein bisschen besser als gewollt sogar.

Verfügbar in der ARD-Mediathek.

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