»The Zone of Interest«: Auschwitz ohne Auschwitz

Waren die Nationalsozialisten bloße Befehlsempfänger oder fanatische Überzeugungstäter? Zum entpolitisierenden Moment von »The Zone of Interest«

  • Timon Wißfeld
  • Lesedauer: 7 Min.
Szene des Familienglücks vor der Mauer zum KZ und Vernichtungslager Auschwitz im Film »The Zone of Interest«
Szene des Familienglücks vor der Mauer zum KZ und Vernichtungslager Auschwitz im Film »The Zone of Interest«

Jonathan Glazers »The Zone of Interest« handelt vom trauten Familienleben des KZ-Kommandanten Rudolf Höß dicht an der Mauer zum Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz. Die Überlagerung von privater Idylle und kalter Vernichtung ließ das Publikum schaudern und jubeln zugleich. In der Zeitung »Welt« schrieb man vom »vielleicht besten Holocaust-Film, der je gedreht wurde«, und selbst in der extrem rechten »Sezession« wurden überwiegend lobende Worte gefunden. Das Publikum kommt nicht umhin, blanke Abscheu gegenüber dem Spießbürgerleben in unmittelbarer Nähe zum industriellen Massenmord zu entwickeln, obwohl dieser in keiner Sekunde des Films visuell dargestellt wird. Geht es dabei überhaupt um die Shoah?

Darstellung des Undarstellbaren

Die Frage nach der Darstellbarkeit der Shoah begleitet den »Holocaust-Film« seit seinen Anfängen. Für den Soziologen und Filmtheoretiker Siegfried Kracauer war der Blick auf den »Haufen gemarterter menschlicher Körper in Filmen über Konzentrationslager« eine Möglichkeit, das »Grauenhafte aus seiner Unsichtbarkeit hinter den Schleiern von Panik und Fantasie« zu erlösen und es erst so bekämpfbar zu machen. Herbert Marcuse sah in der realitätsnahen Darstellung hingegen die Gefahr ihrer Eingemeindung in übliche Sehgewohnheiten, in das Greifbare. Denn besteht die Besonderheit der Shoah in der Überwältigung des Begreifbaren, so muss auch deren Visualisierung abstrahiert und gebrochen sein.

Viele Filme haben sich an der Darstellung des Undarstellbaren versucht und ihrerseits eine Ikonisierung heute bestens bekannter Zeichen produziert. Vertraut ist das geschulte Publikum mit der Großaufnahme von Duschköpfen, dem Guckloch, dem Geschrei hinter der verschlossenen Stahltür, mit Bergen an Brillen, Haaren, Koffern und Schuhen. Das Angedeutete gewinnt gerade durch das Ausgelassene und Abwesende seine Bedeutung. Claude Lanzmanns neunstündiger Dokumentarfilm »Shoah« aus dem Jahre 1985 verzichtet etwa gänzlich auf die filmische Darstellung der Shoah, schließlich sei kein Schauspiel, keine Nachahmung, kein Bild in der Lage, zu zeigen, was gezeigt werden müsste.

»The Zone of Interest« bedient sich in Fülle am reichen Repertoire bekannter Andeutungen: Rauch, Schreie, Schussgeräusche, Schornsteine, Mauer. Gerade die indexikalischen Zeichen, also Zeichen mit Ursache-Wirkung-Beziehung, funktionieren für den beabsichtigten Zweck gut. Rauch ist die Folge von Feuer, ein lauter Knall ist die Folge eines Schusses. Das Publikum wird den gesamten Film über – indirekt, aber gewissermaßen mit dem Vorschlaghammer – auf die Vernichtung des Lebens hinter der Mauer gestoßen. Erwischt es sich dabei, die Hintergrundkulisse auch nur für einen Moment auszublenden, fühlt es sich einer Erkenntnis nahe. Der Erkenntnis der Unmenschlichkeit eines alltäglichen Lebens, während nebenan das Grauen wütet.

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Was ist das Böse?

Nicht zu Unrecht wird »The Zone of Interest« daher mit Hannah Arendts Diktum von der Banalität des Bösen in Verbindung gebracht, als deren Prototyp Rudolf Höß im Film auftritt. Höß wird inszeniert als klassischer Schreibtischtäter – gehorsam, zuverlässig, pflichtbewusst, arbeitsam, ordentlich; gleichzeitig kinderlieb, tierlieb, naturliebend. An dieser Darstellung hat Rudolf Höß mit seinen autobiografischen Aufzeichnungen »Meine Psyche. Werden, Leben und Erleben« zu Lebzeiten noch aktiv mitgearbeitet. Sein Versuch, sich selbst einen gewissenhaften, gleichzeitig aber vielschichtigen Charakter anzudichten, dessen Psyche eine Untersuchung Wert wäre, ist gleich doppelt ideologisch: einmal, weil seine Eigenwahrnehmung die »unvernünftigen«, wahnhaften Beweggründe verdrängt und durch als unschuldig verstandene Rechtfertigungen ersetzt – in der Psychologie spricht man von (privater) Rationalisierung. Zudem ist sein Seelenleben als das eines Individuums nicht der Rede wert, nur als Exempel der NS-Psyche zu untersuchen.

Die Herausbildung eines Denkens, das durch und durch gesellschaftlich funktionalisiert ist, hat zweifelsohne den Grundstein gelegt für jenen Charakter, der Auschwitz erst möglich machte. Es ist, so schrieb Theodor W. Adorno, kein Zufall, dass die »seelisch Verkrüppelten« an die Spitze der totalitären Hierarchien gelangen, weil deren durch Ich-Schwäche geprägte Psychologie »genau harmonisiert mit der Irrationalität der Zwecke«. Die Zurichtung der Psyche in der Moderne ist eine notwendige Bedingung, jedoch nicht die hinreichende Begründung für den Zivilisationsbruch in Auschwitz, wie es das Beispiel Höß am besten zeigt.

Höß trat bereits 1922 der NSDAP bei, also lange bevor es angeblich opportun gewesen sei. Er begeisterte sich für nationalsozialistische Schriften von Hitler, Goebbels oder Rosenberg und leitete daraus die Notwendigkeit der absoluten Judenvernichtung ab. 1923 beteiligte Höß sich am Mord an einem Menschen, den er für einen Kommunisten hielt, schloss sich nach seiner anschließenden Haftstrafe dem radikal-völkischen Siedlerbund Artamanen an. Die vielfach vorgebrachte Kritik an Arendts »Banalität des Bösen«, das Bild des autoritätshörigen Schreibtischtäters verschleiere den Fanatismus und vernichtungsbereiten Antisemitismus, lässt sich auch auf Höß und »The Zone of Interest« übertragen.

Die Leitung von Auschwitz war keine Arbeit wie jede andere, weil ihr Zweck – die Vernichtung um der Vernichtung willen – als gegenrational, nicht nur als irrational zu betrachten ist. Keine moderne Kultur und Gesellschaft hatte sich zuvor von jeglicher Realität, Moral und Zweckrationalität abgekehrt. Auf psychologischer Ebene avancierte das Pathologische zur Normalität, Destruktivität zur gesellschaftskonformen Persönlichkeitsstruktur.

Das Publikum nimmt Höß’ bürgerliches Familienleben in »The Zone of Interest« zwar als normal wahr, kann dessen Normalität aber treffend als eine pathologische durchschauen. Offen bleibt jedoch, was dieses Pathologische konkret ausmacht. Kurz gesagt, Regisseur Glazer konfrontiert das Publikum mit der Banalität, nicht aber mit dem Bösen. Wenn gar der Kommandant des KZ Auschwitz bloß eine ausführende menschliche Hülle gewesen sein soll, wer gab dann überhaupt die Befehle?

Menschliche Kälte

Das Böse wird in »The Zone of Interest« zur Naturgewalt; vor allem das Böse im Menschen. Wenige Tage nach Glazers Dankesrede bei der Oscar-Preisverleihung – der Film sei nicht produziert worden, um »uns damit zu konfrontieren, was man damals gemacht hat, sondern was heute geschieht« – schrieb Piotr Cywiński, Direktor der Auschwitz-Gedenkstätte, wohlwollend auf der Plattform X, »The Zone of Interest« sei kein Film über die Shoah, sondern in erster Linie eine tiefgreifende Warnung über die Menschheit und ihre Natur. Sollte man aus materialistischer Perspektive ohnehin schaudern, wenn die »menschliche Natur« ins Feld geführt wird, so lässt sich aus Cywińskis Kommentar eine verheerende Aussage ableiten: Unmenschlichkeit ist menschliche Natur. Auschwitz war menschliche Natur.

Im letzten Drittel des Films reist die Mutter von Rudolfs Frau Hedwig überraschend ab. Hedwig wird wütend und richtet ihre Aggression gegen das zufällig anwesende Hausmädchen: »Wenn ich wollte, würde mein Mann deine Asche sofort über den Feldern von Babice verstreuen.« In diesem kurzen Ausbruch von Feindseligkeit scheint nicht das Böse in Form eines fanatischen Nazismus durch, sondern die persönliche Kränkung Hedwigs. »The Zone of Interest« lässt das Publikum glauben, damit dem Kern des Nationalsozialismus auf die Schliche gekommen zu sein: keinerlei Ideologie, dafür eine Menge Kaltherzigkeit.

Erst durch die gleichzeitigen Auslassungen – der NS-Ideologie, des Zivilisationsbruchs und der Darstellung der Vernichtung – wird Auschwitz aus seiner Spezifik und seinem Kontext gelöst und damit einer Normalisierung zugeführt. In »The Zone of Interest« geht es nicht um Auschwitz, sondern um das »Prinzip Auschwitz«. Für Arendt und ihr heutiges Erbe gilt das Konzentrationslager als notwendige Kulmination moderner Gesellschaftsverwaltung, als bloßes Resultat von Bürokratie und menschlicher Kälte, nicht als Ergebnis der autoritären Pseudo-Rebellion und des gleichzeitig modernen wie antimodernen antisemitischen Wahns.

»The Zone of Interest« formuliert eine abstrakte Kritik an Ordnung, Disziplin, Nüchternheit und Macht, ohne das Unbegreifbare der Shoah greifbar zu machen. Könnte dann die Mauer, die Höß’ Garten vom KZ trennt, nicht auch die Mauer zwischen Israel und Palästina sein und sind nicht alle Israelis ein bisschen wie Familie Höß, wie Glazer es selbst andeutete? Einem solchen Geschichtsrevisionismus hätte »The Zone of Interest« nichts zu erwidern. Die Mauer des KZ Auschwitz zum Symbol einer Mauer zu ernennen, kann nur, wen der Grund ihres Baus nicht kümmert.

Timon Wißfeld ist Kommunikationsdesigner und beschäftigt sich mit der Gestaltung von Erinnerung und Gedenken.

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