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Gelesen - dabei gewesen

Neuerscheinungen, annotiert: Gerhard Henschel, Bernd Gieseking, Daniel Borgeldt, Anne Christine Schmidt

  • Niko Daniel / Axel Klingenberg
  • Lesedauer: 6 Min.

Gerhard Henschel zum Sammeln

Gerhard Henschel wurde eine Ausgabe von »Text + Kritik« gewidmet. Geboren 1962 in Hannover, ist er einer der produktivsten deutschen Schriftsteller, andere schreiben Texte oder Bücher, er macht beides, was der Filmemacher und Publizist Wenzel Storch andeutet: »Wer sich als Greenhorn, Neu- oder Quereinsteiger eine vorzeigbare, halbwegs repräsentative Henschel-Sammlung aufbauen will, darf den Gang zum Buchhändler und Antiquar nicht scheuen. Kniet er sich richtig rein, kann er bald schon an die 50 Bücher sein eigen nennen und sich in Hunderten, ja Aberhunderten von Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträgen wälzen (...) Dabei vereinigt das bis heute aufgetürmte (und längst mehr als eine Badewanne füllende) Œuvre nicht nur Tage- und Fragebücher, Lexika und Bilanzen, Glossen-, Verriss- und Reportagesammlungen, Fußball-, Wander- und Wörterbücher, mediengeschichtliche Panoramen, Porträts und Bilderbücher, in Kollaboration entstandene Kinder- und Jugendbuchparodien, Studien und Lyrikbändchen, es finden sich - als Vertreter der bei Publikum so beliebten schönen Literatur - Schlüssel- und Schelmen-, Science-Fiction- und Kriminalromane.« Inspiriert von Eckhard Henscheid und Walter Kempowski, befreundet mit u.a. Wiglaf Droste und Max Goldt, erfindet dieser Besitzer sämtlicher Ausgaben des »Spiegel« und konsequenter »Bild«-Gegner »keine neuen Genres, aber er reinterpretiert die vorhandenen«, merkt der Germanist Lutz Hagestedt an, wobei »Sprachkritik als Parodie« zu seinen »Königsdisziplinen« gehöre, wie die Literaturwissenschaftlerin Laura Schütz konstatiert.

Michael Ringel, Redakteur der »Wahrheit«-Seite der »Taz«, erinnert an die Skandale, die Henschel ausgelöst hat: Gegen die fiktive Reportage »Was der Ajatollah Chomeini in Paris trieb« protestierte die iranische Botschaft, und gegen eine ihm von Henschel angedichtete Penisoperation prozessierte der damalige »Bild«-Chefredakteuer Kai Diekmann. Über seinen Werdegang legt Henschel in seinen Martin-Schlosser-Romanen regelmäßig Zeugnis ab. In ihnen stimme alles, nur nicht der Name der Hauptfigur, meint Henschel, der ein Werk geschaffen hat, »dem die Kritik längst Proust'sche Ausmaße, und über den laufenden Regalmeter hinaus, Ewigkeitswert nachsagt« (Storch).

»Text + Kritik«, Nr. 240, 28 €.

Tristesse im Taunus

»Cheyenne« – ist das ein Krimi? Wahrscheinlich nicht, auch wenn es gewissermaßen um einen Kriminalfilm geht. Ist es dann vielleicht ein Entwicklungsroman? Schon eher, aber auch das trifft es nicht so ganz. Oder ist es einfach nur Trash? Und warum eigentlich »nur«? In Daniel Borgeldts fesselndem Roman berichtet die Ich-Erzählerin, dass sie ein »ruhiges Leben« führe. Aber: »Hat auch lange genug gedauert. Was ich hier aufschreibe, ist Jahrhunderte her. So fühlt es sich an. Ist aber in Wahrheit vor weniger als zehn Jahren passiert. Ich bin seit langem raus aus dem ganzen Scheiß. Doch wenn ich mich hinsetze und das aufschreibe, dann seh ich wieder das Mädchen vor mir, das ich damals war.«

Dieser jugendliche Alltagsjargon klingt zeitlos, biedert sich nicht an. Die Geschichte spielt in einem migrantischen Armenmilieu, wobei sich Daniel Borgeldt nicht anmaßt, über die von ihm ersonnenen Charaktere zu urteilen. Vielmehr spielt er gekonnt mit Klischees, zieht eine Metaebene ein, mit der er Cheyenne mit ihren eigenen Augen beobachten kann. Dabei ist es keine Sozial- oder gar Klassenstudie, denn Borgeldt will vor allem unterhalten. Dass der Roman eine melancholische Grundstimmung hat, steht dazu keinesfalls in einem Widerspruch. Die Gattung »Popliteratur« ist heute etwas aus der Mode gekommen (zumindest die Begrifflichkeit), aber vielleicht lohnt es sich hier, die Bezeichnung wieder aufzugreifen, denn neben den alltäglichen Beschreibungen und zeitgeschichtlichen Anklängen sind hier die popkulturellen Reminiszenen an die großen Kinofilme von Quentin Tarantino, Martin Scorsese und David Lynch mehr als deutlich – und werden auch explizit genannt. Cheyenne liebt diese Gangsterfilme. Und lebt sie. Und die Musik von Kimya Dawson und Slayer mag sie auch. Axel Klingenberg

Daniel Borgeldt: Cheyenne. Ventil-Verlag, 181 S., 16 €.

Ostwestwalens Philosophie

In Ostwestfalen (die Region um Bielefeld, Paderborn, Minden, Höxter, auch Ostwestfalen-Lippe genannt) fragt man nicht: »Wo kommst du her?« sondern: »Wo bist du denn wech?« Da kommen Leute wech wie Jürgen von der Lippe, Bernadette La Hengst, Hannes Wader, Luigi Colani, Henning Venske, Ingolf Lück, Hans Wollschläger und die »Bielefelder Schule«, die das Magazin »Titanic« prägte: Christian Y. Schmidt, Hans Zippert, Fritz Tietz, Wiglaf Droste, Ella Carina Werner, Til Mette – und auch der Kabarettist und Autor Bernd Gieseking, der nun »Das Kuriose Ostwestfalen Buch« vorlegt. In diesem Landstrich, der doppelt so viele Einwohner wie das Saarland hat, gibt es nicht nur Miele, Dr. Oetker und Bertelsmann, sondern auch eine Apfelsorte namens Extertaler Katzenkopf und einen Braunkohl namens Lippische Palme. Was man noch so isst: Pickert (eine Mischung aus Reibe- und Pfannkuchen mit Weizen), Schwarzbrot mit Stippgrütze (Wurstbrühe) und Anballersse (Buttermilcheintopf). Und der Überbau? Der geht so laut Gieseking so: »Treffen sich zwei Ostwestfalen, so sagt der eine: ›Und?‹ darauf antwortet der andere, leicht verzögert: ›Muss!‹ Dieses erste fragende ›Und?‹ ist das größtmögliche Interesse am Gegenüber, die Frage nach dessen Sein und Wollen. Das ist Philosophie und Seelsorge zugleich. ›Und?‹ ist die Frage nach dem Urgrund. Und dann kommt vom Gegenüber die Antwort: ›Muss!‹ Dieses ›Muss!‹ ist einerseits ehrliche Erwiderung und andererseits ironisches Spiel in einem.« Variante: »Es ist furchtbar, aber es geht.«

Bernd Gieseking: Das kuriose Ostwestfalen Buch, Satyr, 360 S., geb., 24 €

Brutale Wissenschaft

Die Biologin Anne Christine Schmidt berichtet vom »Alptraum Wissenschaft«: wie sie insgesamt 15 Jahre lang durch abscheulich prekäre Beschäftigungsverhältnisse im Universitätsbetrieb schritt, sich dabei ihre körperliche und geistige Gesundheit ruinierte und in absurden Hierarchien so gedemütigt wurde, dass sie im allerletzten Moment ihre Habilitation abbrach. Letztlich katapultierte sie ihr »Habil-Papa« aus dem Wissenschaftsbetrieb hinaus, weil er jenseits aller Fristen 24 Monate brauchte, um ein Gutachten für ihre Habilitationsschrift zu verfassen, das er dann auch noch sehr negativ formulierte. War es enttäuschte Liebe? Nein, nur enttäuschte Eigenliebe. Es reichte schon, dass Schmidt völlig korrekt seine ihr gestellten schikanösen Aufgaben verweigerte, weil sie nicht in ihren Aufgabenbereich fielen.

Anne Christine Schmidt: »Alptraum Wissenschaft« – ein Erfahrungsbericht. Textem, 158 S., 16 €.

Brutales Schreiben

Vom Schreiben leben zu wollen, ist äußerst anstrengend; nicht nur, weil es in der Regel sehr schlecht bezahlt wird, sondern weil man nebenher noch diverse Care-Aufgaben zu erledigen hat, für die sich niemand interessiert. Davon handelt der auf bestürzende Weise ebenso lustige wie gruselige Sammelband »other writers need to concentrate«, in dem verschiedene Autor*innen von diesem täglichen ungewinnbaren Zweifrontenkrieg berichten. Kirsten Fuchs schreibt: »Freizeit heißt für mich, Zeit zu haben, um zu arbeiten. Verrückt, oder? Denn ich will arbeiten. Ich will, ich will meine eigenen Gedanken haben. Mama, ruft es mich aus meinen Gedanken. (…) Ich frage meine Tochter manchmal, mit wem sie spricht, wenn ich nicht im Zimmer bin.« Martina Hefter erinnert sich: »In der Zeit der Schwangerschaften und Babys fiel der Anfang meines ›ernsthaften‹ Schreibens. Ich habe meinen ersten Roman geschrieben, da war ich mit dem zweiten Kind schwanger und meine Tochter war etwas über ein Jahr alt.« Florian Wacker träumt davon, »nur so dazusitzen und die Gedanken schweifen zu lassen«. Leider hat er keine Zeit.

Katharina Bendixen, David Blum, Barbara Peveling, Sibylla Vričić (Hg.): other writers need to concentrate. Sukultur, 191 S., br., 24 €.

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