Glanz und Elend der materialistischen Ästhetik

Jan Loheit rekonstruiert die Entstehung des »Wörterbuchs der ästhetischen Grundbegriffe« und damit einen kulturwissenschaftlichen Paradigmenwechsel

  • Gerhard Schweppenhäuser
  • Lesedauer: 5 Min.

Im Jahre 2000 erschien im Metzler-Verlag, damals noch in Stuttgart und Weimar ansässig, der erste Band eines Nachschlagewerks, das Anfang der 1980er Jahre als Projekt am Zentralinstitut für Literaturgeschichte in Berlin (der Hauptstadt der DDR) auf den Weg gebracht worden war. Es hieß »Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden«. Als 2005 der letzte Band vorlag, wurde es in Fachkreisen enthusiastisch gefeiert. Der Verlag bewarb es so: »Ziel ist es, das gegenwärtige ästhetische Wissen in einem inter- und transdisziplinär angelegten Lexikon zu erschließen. Ausgehend von der Gegenwart und ihrer Medienwelt wird die jeweilige Begriffsentwicklung im europäischen Kulturvergleich aufgezeigt.« In einer Rezension der Universitätszeitschrift »Forschung Frankfurt« wurde es als»das zur Zeit wohl ambitionierteste und konzeptionell originellste Nachschlagewerk im Bereich der ästhetischen Theorie« bezeichnet, das diese Spitzenstellung »voraussichtlich auch lange« behalten werde. Im Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin nannte man das Wörterbuch »ein Grundlagenwerk zur Ästhetik und Kulturwissenschaft«.

Jan Loheit, ein Germanist und Soziologe, der in Halle lehrt und in Weimar lebt, hat die Entstehungsgeschichte dieses Werks aufgearbeitet. Für seine minutiöse Rekonstruktion der Entstehung des Sammelbands, an dem ca. 150 Autor*innen beteiligt waren, nimmt er den Zusammenhang von Ästhetik und Gesellschaftstheorie in den Blick. Denn eine materialistische Ästhetik, schreibt er in seinem Buch »Ästhetik und Sozialkritik«, dürfe sich nicht von Fragen der Weltgestaltung abwenden: »Sie weiß, dass ästhetische Erfahrung sich in der Funktions- und Rezeptionslust an Gestaltungsprozessen entfaltet, im umfassenden Sinn der Gestaltung von Lebensbedingungen. Ihre Hauptfrage lautet, wie im Raum des Ästhetischen aufs Gemeinwesen orientierte Handlungsfähigkeit gewonnen werden kann. Dazu gehört, das Geflecht von Herrschaftsreproduktion im Imaginären und kulturellem Zweckhandeln zu entschlüsseln.«

Die konzeptionellen Grundlagen für eine solche materialistische Ästhetik wurden im 20. Jahrhundert von Walter Benjamin und Theodor W. Adorno sowie zum Teil vom Strukturalismus und der Rezeptionsästhetik entwickelt. Aber, wie Loheit zeigt, eben auch von undogmatischen Denkerinnen und Denkern der DDR-Kulturwissenschaft. Der Autor rekonstruiert, wie die Suche nach einer unorthodoxen historisch-materialistischen Begriffsarbeit, die sich als solidarische Revision marxistischer Philosophie und Kulturtheorie verstand, »im Zuge des kulturellen Hegemoniewechsels der 1980er Jahre bis zur Jahrtausendwende« jedoch von einem gegenläufigen Bemühen abgelöst wurde: der Suche nach Anschluss an hegemoniale Diskurse »des Westens«.

Loheit erschließt diesen Prozess über genaue Lektüren von Veröffentlichungen der Beteiligten und durch sorgfältige Arbeit an unveröffentlichten Archivmaterialien. Er kann an die wenigen Studien zum Thema anknüpfen, die es vor ihm gab, und er geht weit über sie hinaus. Zum einen durch seine inhaltliche Fokussierung der Grundlagendebatte über Konzepte der Ästhetik, und zum andern durch seine eigene Thesenbildung zur gegenwärtigen Situation einer marxistisch-kritischen Gesellschafts- und Kulturtheorie. Besonders fruchtbar waren dabei seine Gespräche mit Michael Franz, einem der führenden heterodoxen Theoretiker zu DDR-Zeiten.

Loheit verfolgt »die Vorgeschichte des Wörterbuchs, (…) beginnend mit der in den frühen 1960er Jahren sich ankündigenden Hightech-Revolution, der Gründung der DDR-Kulturwissenschaften und des (Leipziger) Zentralinstituts für Literaturgeschichte, (…) bis in die frühen 1980er Jahre«. Er skizziert, wie aus den Umbrüchen auf dem Gebiet der technischen Produktivkräfte ein Umbruch der Wissenskultur hervorging. Interdisziplinäre Ansätze aus Philosophie, Literatur- und Kulturwissenschaft sowie Gestaltungstheorie und Kunstwissenschaft führten seit den 1960er Jahren zu innermarxistischen Reformversuchen. Das Realismus-Dogma von Georg Lukács sollte – durch Lektüren von Benjamin, Brecht und Hanns Eisler, aber auch durch die Rezeption von Adorno, des Strukturalismus sowie der Semiotik und der Rezeptionsästhetik – in ein innovatives Konzept der »Aneignung« verwandelt werden. Lothar Kühnes »mehrstellige Ästhetik« markierte in den 1970er Jahren einen kategorialen Paradigmenwechsel, den die Berliner Ästhetik aufgriff und den unter anderem Michael Franz und Günter Mayer mit einer marxistisch fundierten Semiotik erweiterten. Nun konnten Architektur und Technik, Design, Kommunikation und Wahrnehmung konzeptionell angemessen berücksichtigt werden. »Ästhetische Kultur« wurde zum neuen Schlüsselbegriff.

So entstand das Wörterbuch-Projekt in einem nicht unproduktiven politisch-institutionellen Spannungsfeld aus Partei, ML-Institutionen und der Gruppe der kulturwissenschaftlich ausgerichteten »Berliner Ästhetik«. Diese verband materialistische Praxisphilosophie und Semiotik mit der Ästhetik der Massenkultur sowie einer emanzipatorischen Theorie der Produkt- und Raumgestaltung. Doch am Ende wurde die »Berliner Ästhetik«, von der das Wörterbuchprojekt in Verbindung mit der Leipziger Kulturwissenschaft ursprünglich als konzeptionelle Basis ausging, zu einer ideengeschichtlichen Nebenlinie zurückgestuft.

Loheit liefert markante Darstellungen der wissenschaftspolitischen Konstellationen, in denen sich die Herausgeber des Wörterbuchs mit einer Forschungsgruppe der Universität Siegen und mit der konservativen Konstanzer Schule der Begriffsgeschichte über Wasser zu halten versuchten. Ein Projekt, das als kollektive theoretische Reaktion auf den Zerfall der ästhetisch-kulturwissenschaftlichen Paradigmen der marxistisch-leninistischen Philosophie begonnen hatte, verwandelte sich aufgrund des Zerfalls der (wissenschafts-)politischen Machtverhältnisse in eine Reihe individueller Reaktionen auf den Paradigmenzerfall der kulturellen Moderne.

Die Neuorientierung bewirkte eine Verschiebung der historisch-materialistischen Fokussierung. An die Stelle einer praxisphilosophischen Suche nach womöglich widerständigen ästhetischen Erfahrungsweisen in der Massenkultur traten unkritische Beschreibungen der globalen Ästhetisierung der Lebenswelt. Die ästhetische Postmoderne wurde nicht mehr als »kulturelle Logik des Spätkapitalismus« kritisiert (um es mit Fred Jameson zu sagen); sie wurde als bunte neue Kulturepoche gefeiert. Loheits These lautet: Die von Jean-François Lyotard inspirierte Vernunftkritik, unter deren Flagge Karl Heinz Barck das Wörterbuchprojekt in See stechen ließ, als jene in der Philosophie schon wieder an Bedeutung zu verlieren begann, lebt in gegenwärtigen Trends zur Ästhetisierung und Kulturalisierung der Gesellschaftstheorie erneut auf. Wer Argumente für eine pointierte Kritik an Andreas Reckwitz, Bruno Latour und Gernot Böhme im Zeitalter der Digitalisierung und der nur vermeintlich immateriellen Arbeit sucht, wird bei Loheit fündig werden. Sein Buch rekonstruiert einen wichtigen, zu Unrecht kaum noch beachteten Abschnitt der Wissenschaftsgeschichte der DDR. Nicht im Sinne einer Archivierung, sondern mit Blick auf die Gegenwart und die Erneuerung kritischer Gesellschaftstheorie.

Jan Loheit: Ästhetik und Sozialkritik. Kontexte des Wörterbuchs der ästhetischen Grundbegriffe. Argument Verlag, 320 S., br., 25 €.

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