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Im Nebel, ohne Kompass

Warum sich autoritär und links ausschließen und der Liberalismus nie ein Partner der Linken sein kann

  • Jörn Schütrumpf
  • Lesedauer: 7 Min.
Libertad oder Liberalismus? Die Göttin der Freiheit, die die französischen Revolutionäre 1830 anführt, wollte Gleichheit, Gerechtigkeit und Kollektivität
Libertad oder Liberalismus? Die Göttin der Freiheit, die die französischen Revolutionäre 1830 anführt, wollte Gleichheit, Gerechtigkeit und Kollektivität

Links bedeutet freiheitlich, demokratisch, solidarisch, oder kurz gesagt: sozialistisch. Eine »autoritäre Linke« hat es nie gegeben, allenfalls autoritäre Politiker, die sich in ihrer Jugend als Linke fühlten und für diese Überzeugung ins Gefängnis, ins Zuchthaus oder später auch ins KZ geworfen wurden beziehungsweise, wenn das Glück ihnen hold war, rechtzeitig ins Exil hatten flüchten können. Wenn diese Linken jedoch Macht erlangten – und sei es auch nur innerhalb einer Partei –, wurden sie, schon um nicht wieder von der Macht verdrängt zu werden, nicht selten autoritär.

Repräsentanten einer »autoritären Linken« waren sie deshalb jedoch keineswegs, sondern allenfalls nur simulierende Linke. Das Interesse der simulierenden Linken am Sozialismus endet stets dann, wenn dieser Sozialismus nicht mehr dem eigenen Machterhalt nützt – sei es in einer Partei, sei es in einem Staat, das ist letzten Endes völlig egal. Frauen (sieht man mal von Ruth Fischer, die KPD-Vorsitzende 1924/25, ab) waren darunter übrigens nicht zu finden.

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Die meisten Menschen, die heutzutage aufseiten der Linken in der Politik wirken, sind natürlich – Gott oder wem auch immer sei Dank – keine Simulierenden; es wäre ein Grauen, wenn es anders wäre. Jene hingegen, die linke Politik nur simulieren, sind nichts anderes als bürgerliche Politiker, die, um Geld verdienen zu können, fast immer anderes verkünden (müssen), als sie politisch praktizieren.

Was aber heißt überhaupt »links«? Jahrtausendelang tobte ein Klassenkampf von oben. Die Rechte herrschte. Erst die Revolution der Franzosen von 1789 brachte die Vorläufer der Linken in die Öffentlichkeit. (Davor war das, was heute als Linke bezeichnet wird, höchstens kurzzeitig sichtbar geworden, zum Beispiel in den 1530er Jahren mit dem Täuferreich von Münster.) In der französischen Nationalversammlung saßen die Vorläufer der Linken jedoch nicht links, sondern oben und nannten sich »Berg« oder »Bergpartei«; unten saß der »Sumpf«. Später wurde aus oben und unten links und rechts. Ich denke, es ist an der Zeit, zumindest im Selbstverständnis, von links und rechts wieder zu »Berg« und »Sumpf« zurückzukehren. Apropos: Eine Linie von Robespierre (vom »Berg«) zu Sahra Wagenknecht zu ziehen, wäre wirklich eine Beleidigung: für Robespierre. Der Mann hatte immerhin Ideale.

Über Robespierre sei Lenin nicht vergessen. Lenin hat mit seiner Revolutionstaktik – und es war im Wesentlichen seine, die sich durchsetzte – zwischen 1917 und Sommer 1920 Russland ins 20. Jahrhundert geholt. Das macht seine weltgeschichtliche Bedeutung aus. Dass das Problem der Ablösung der kapitalistischen Produktionsweise und der an ihr hängenden bürgerlich-kapitalistischen Herrschaft in Russland »nur gestellt werden«, aber »nicht … gelöst werden« konnte (Rosa Luxemburg, 1918), wurde Lenin, wenn überhaupt, erst auf dem Sterbebett klar.

Die von Friedrich Engels entdeckte Faustformel, nach der eine Revolution über ihre im Moment realisierbaren Ziele hinausgetrieben werden müsse, um nach dem – in jeder Revolution unvermeidbaren – Rückschlag (Thermidor) wenigstens die Ziele zu erreichen, die in ihren augenblicklichen Möglichkeiten liegen, glaubte Lenin, in Russland außer Kraft setzen zu können. Beim Aufstand seiner eigenen Elitetruppen in Kronstadt im Februar/März 1921 – gegen seine eigene Herrschaft – zog er es vor, statt sich im Exil eine Professur zu suchen, zum ersten »linken« Thermidorianer zu werden. Wenn man von den Hingeschlachteten von Kronstadt und den Opfern der Bauernaufstände gegen die Parteidiktatur der Bolschewiki an der Jahreswende 1920/21 absieht, war das noch ein »trockener Thermidor« (so meinte zumindest Paul Levi, 1919 bis 1921 Vorsitzender der KPD). Den »feuchten Thermidor« – den eigentlichen Thermidor unter den zuvor vermeintlich siegreichen Revolutionären selbst – holten die Bolschewiki mit der »großen Säuberung« von 1936 bis 1938 nach. Anschließend wussten nur noch einige wenige Überlebende, was ursprünglich mit Sozialismus gemeint gewesen war.

Noch ein Wort zu Stalin, dem »feuchten Thermidorianer«: Auch er war kein »autoritärer Linker«. Bei den Bolschewiki hatte er mit Banküberfällen und Mordanschlägen, also schlichtweg als Terrorist, reüssiert; mangelnde Intelligenz glich er mit Verschlagenheit aus. Links war an diesem Massenmörder, der sich »Führer des internationalen Proletariats« titulieren ließ und dessen Kultur darin gipfelte, Wodka mit Portwein zu mischen, nichts.

Nun jedoch – heute – wurde endlich eine Medizin gegen diese ganze jammervolle Geschichte des »real existierenden Sozialismus« entdeckt: Die »Liberalismusverachtung« sei es, die die »Grundtorheit der Linken« ausmacht – und nicht etwa die Verdrängung der Einsicht, dass in jeder neuen Generation von Linken eine Auseinandersetzung mit dem stattfinden müsse, was im 20. Jahrhundert im Namen der Linken in Massenmord, Mauer und Stacheldraht endete!

Vergessen ist außerdem, dass liberale und sozialistische Ideen Ausdruck der Abkehr der Menschheit von der Barbarei und im Übrigen ziemlich gleich alt sind. Vor 1933 stand bei Linken, die es gewohnt waren, Ganztexte zu lesen, Max Beers »Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe« (zuletzt 1931 mit einer Einleitung von Hermann Duncker) nicht nur im Bücherschrank. Dort lässt sich alles bis zum Alten Testament zurückverfolgen; aber wer liest heute noch Ganztexte? Es reicht allenfalls zur Erfindung einer »autoritären Linken«. Und so ist alles verblasst, nicht nur dass sich die liberale Idee erst seit der niederländischen Unabhängigkeitsrevolution von 1566 bis 1579, und selbst dann nur schrittweise, politisch durchsetzen ließ, sondern auch: dass dieser Fortschritt die entscheidende Voraussetzung war, die den Entehrten, Ausgebeuteten und Unterdrückten den Weg zu sozialistischen Ideen freimachte.

Das war im Liberalismus selbstverständlich nicht intendiert. Im Kern liberaler Ideen steht ein einziger Gedanke: der Schutz des Privateigentums an Produktionsmitteln vor wem auch immer, ob vor Raubrittern, ob vor dem Staat, ob vor den Verdammten dieser Erde. Dieser Schutz bildet – auch heute noch – das Alpha und Omega der kapitalistischen Produktionsweise; ohne diese Rahmenbedingung kann sie nicht funktionieren.

War zuvor der Staat stets Bestandteil der Wirtschaft, trennten sich mit dem Übergang zur kapitalistischen Produktionsweise Staat und Wirtschaft. Die Wirtschaft konnte endlich »freihändig« laufen, bedurfte aber weiterhin des Schutzes durch den Staat – den ideologisch bis heute der Liberalismus prägt (politisch ist er weitgehend von der Bühne verschwunden.)

Allerdings liefen die Dinge aus dem Ruder: Mit der politisch-revolutionären Durchsetzung dieses Schutzes wurde ein Tor aufgestoßen, dessen Öffnung nie beabsichtigt war: das Tor zum von unten geführten Kampf um politische Freiheiten, begonnen beim aktiven und passiven Wahlrecht für alle Erwachsenen und weit über das Briefgeheimnis hinaus ausgebaut. Erst die politischen Freiheiten gestatteten, einen geschützten Raum zu erkämpfen, in dem – gefahrenarm – zwischen liberalen und sozialistischen Ideen gerungen werden konnte. Der von der Wirtschaft abgelöste Staat wurde nun zum Kampfobjekt zwischen den verschiedenen Klassenkräften.

Dass heute viele Menschen allerlei Geschlechts, die auf der Linken mittun, das nicht begreifen, ist leider Gottes Tatsache. Falls das mit »Liberalismusverachtung« gemeint sein sollte, muss man dem zustimmen. Was jedoch kein Grund ist, die Linke mit dem Liberalismus, also mit dem Schutz des Privateigentums an Produktionsmitteln, zu versöhnen. Das Problem, vor dem die Linke steht, ist, hegelianisch formuliert: das »aufzuheben«, was der Liberalismus – oft wider Willen – an politischen Freiheiten ermöglicht hat, diese Errungenschaften, die immer bedroht sind, zu verteidigen und für ihre Erweiterung breite Bündnisse zu finden.

Bei alldem wird der Liberalismus jedoch kein Partner sein, sondern stets ein Gegner bleiben. Die Linke sollte sich endlich auf den Kampfboden stellen, den ihr die freiheitlich-demokratische Grundordnung (ganz und gar ohne Anführungszeichen) bietet und beginnen, linke Politik zu treiben – statt anderen hinterherzupfeifen.

Der Physiker Anders Levermann vom Potsdamer Klimafolgenforschungsinstitut hat jüngst vorgeschlagen, die Macht des Privateigentums an Produktionsmitteln einzuhegen: begonnen mit Gehaltsobergrenzen und längst noch nicht endend mit der Begrenzung von Marktmacht (»Die Faltung der Welt«, Ullstein 2023) – als Einstiegsprojekte für eine Re-Politisierung linker Politik eigentlich ganz sinnvoll. Wahrscheinlicher aber ist, dass Levermann aus dieser Richtung demnächst entlarvt werden wird: als »autoritärer Linker«.

In unserer Debattenreihe zu Liberalismus und Sozialismus erschienen von Michael Nelken »Linke Versöhnung mit dem Liberalismus?« (18.3.), von Alexander King »Einsatz für Frieden ist kein ›Kuscheln mit Diktatoren‹« (5.2.) und von Michael Brie »Zukunft der Linken: Linksliberal oder dezidiert sozialistisch?« (29.1.) sowie von Jan Schlemermeyer »Linke ohne Wagenknecht: Gegen den Autoritarismus von links« (22.1.).

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