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- 300 Jahre Kant
Immanuel Kant: Was können oder sollen wir wissen?
Freiheit und Ausbeutung: Immanuel Kant, dem Philosophen eines innerlich zerrissenen Bürgertums, zum 300. Geburtstag
Im März 1801 schreibt ein 23-jähriger Studienabbrecher seiner Verlobten aus Berlin. Ein Gedanke habe ihn »so tief, so schmerzhaft« erschüttert, dass er nicht mehr arbeiten kann. Sein »höchstes Ziel« im Leben sei nun verloren. »Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint.« Was er meint, erläutert er mit einem Gleichnis: »Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten«, dann müssten den Menschen alle Gegenstände grün erscheinen. Ob die Gegenstände tatsächlich grün sind, wissen sie nicht. Schlimmer, sie ahnen nicht einmal, dass jene Eigenschaft ihre Zutat ist. Genauso sei es mit dem Denken.
In jeder Erfahrung die Formen, auf welche Art und Weise der Mensch Dinge wahrnimmt, inklusive. Sie unterliegen den Gesetzen von Raum, Zeit und Kausalität. Der Kniff liegt nun darin, dass das Denken diese Gesetze nicht aus der Natur, sondern aus sich selbst schöpfe, ohne Teil der Natur zu sein. Deutsche Philosophen nannten das »reine Vernunft«. Wenn der Geist der Natur seine eigenen Regeln vorschreibt, dann bleibt uns die Realität als solche außerhalb unseres Kopfs verborgen. Das Auseinanderfallen von Erkenntnis und Wahrheit ist die Folge – das plagte den damals noch unbekannten Heinrich von Kleist, auch in seiner Dichtung. Verantwortlich dafür war der Philosoph Immanuel Kant, geboren vor 300 Jahren am 22. April 1724 in Königsberg, dem heutigen Kaliningrad.
Von der Freiheit belästigt
Um 1800 hatten Kants Schriften seit drei Jahrzehnten die denkenden und dichtenden Vasallen deutscher Kleinfürsten und Preußens umgetrieben. Unter dem Eindruck der Umwälzungen in Westeuropa und Amerika lieferte Kant für die politischen Ansprüche der bürgerlichen Klasse ein weltanschauliches Alphabet für die Überlegenheit der kapitalistischen Moderne. Die Naturwissenschaften hatten es vorgemacht. Kant musste sie nur noch für das neue Weltverhältnis des Menschen übersetzen.
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Auf der einen Seite rechnete Kant mit der alten Metaphysik ab, wonach alles im Universum seine absolute Wahrheit durch die Bürgschaft Gottes erhielt, gemäß der Idylle des feudalen Lehenswesens. An die Stelle von Gottes Wort trat die Deduktion durch die Vernunft. Auf der anderen Seite wurde es seit der »Kritik der reinen Vernunft« (1781) unmöglich, Philosophie wissenschaftlich zu betreiben, wenn man nicht auch den Menschen und die logischen Bedingungen seiner Erkenntnisfähigkeit berücksichtigte.
1543 hatte Nikolaus Kopernikus durch logische Schlüsse herausgefunden, dass nicht die Sonne um die Erde, sondern dass die Erde um die Sonne kreist. So argumentierte auch Kant: Nicht die Gegenstände drehen sich um den Menschen, es ist umgekehrt: Der Mensch kreist um die Gegenstände. Er verhält sich relativ zu ihnen. Er muss sich um sie bewegen, seine Herangehensweise überdenken, vor allem aber permanent sein Wissen prüfen, da die Gegenstände wie die Sonne unabhängig vom Menschen existieren und nicht identisch damit sind, wie er sie wahrnimmt. Nur dann sind allgemeingültige Aussagen möglich.
Seither ist der Mensch als Subjekt der Erkenntnis unhintergehbar. Das bedeutete aber auch, dass gerade deshalb der Mensch das Subjekt der Freiheit ist. Das war theoriegeschichtlich ein bedeutsamer Schritt vorwärts. Danach ging es mit Kant allerdings bergab.
Kant bedauert, dass der Mensch wegen der Freiheit »durch Fragen belästigt wird«, die er nicht ignorieren, »aber auch nicht beantworten kann«. Entweder unterliegt »alles in der Welt« Naturgesetzen, was die Freiheit unmöglich macht, oder Freiheit ist möglich, was aber die Naturgesetze infrage stellt. Für beide Positionen gibt es nach Kant gute Gründe. Also behauptet er, dass Freiheit eine abstrakte Idee ist. Die Vernünftigen müssten sich an ihr orientieren, auch wenn die Freiheit nicht konkret realisiert werden kann. Was aber bleibt dann noch von der Freiheit übrig?
An diesem Widerspruch entzündete sich der Protest seiner Nachfolger. Der deutsche Idealismus war geboren.
Wissen, tun, hoffen
Geht es um die Freiheit, steht alles auf dem Spiel. Über kurz oder lang setzt die Revolution ihre Ansprüche durch. Bleibt die Revolution aber aufgrund der politischen Zerrissenheit und wirtschaftlichen Rückständigkeit aus, wie zu Kants Lebzeiten in Deutschland, tritt der Philosoph auf den Plan, der das Kunststück einer »Revolution der Denkart« vollbringt: ein Sturm auf die Kategorien des Denkens. Das ist ein Widerspruch in sich, aber er ist folgerichtig. Wer überkommene Verhältnisse nicht ändern kann, weil die aufstrebende Klasse ihre Aufgaben noch nicht kennt, denkt über die Brüchigkeit bisheriger Ideen nach.
Anders aber als die französischen Aufklärer, deren Gedanken zum Sturm auf ein Staatsgefängnis drängten, entwickelte Kant im Namen der Vernunft ein System der Selbstgeißelung. Damit war er weitsichtiger. Sein Rat war uralt, nur neu verkleidet: Ihr könnt wissen, aber nicht zu viel. Ihr sollt tun, aber nicht zu viel. Ihr dürft hoffen, aber nicht zu viel. Der Mensch? Nichts weiter als krummes Holz, aus dem nichts Gerades wird. Die Vernunft gebietet Demut.
So spiegelte sich in Kants Philosophie die faustische Gespaltenheit des Bürgerlichen in Demokraten und Privateigentümer, in Menschenrechtler und Kolonialisten, in Freiheitsprediger und Ausbeuter wider. Das bürgerliche Subjekt konnte sich mit seinem janusköpfigen Trauerspiel abfinden. Bis heute verspricht Kant seelischen Trost zwischen dem »bestirnte[n] Himmel über mir und [dem] moralische[n] Gesetz in mir«.
Doch die Vernunft ist listiger als Kant. Wer über die Bedingungen der Erkenntnis nachdenkt, ehe er erkennen will, befindet sich schon im Fluss des Erkenntnisprozesses. Wer die Grenzen des Wissens feststellt, tritt im selben Augenblick über sie hinaus. Wer die Freiheit mit starren Kategorientafeln einzäunt, weil sie im Konflikt zur materiellen Gegebenheit der Welt steht, der ebnet der Dialektik den Weg. Wer Dialektik als »Logik des Scheins« herabsetzt, muss sich dem Widerspruchsdenken G.W.F. Hegels stellen. Und wer das »Ding an sich« vorschiebt, um von der Klassengesellschaft zu schweigen, wird vom eigenen Bewusstsein gequält, das von vornherein den »Fluch an sich« hat, mit der Materie »behaftet« zu sein, wie Karl Marx und Friedrich Engels verdeutlichten. Der Mensch denkt nicht nur, durch Arbeit greift er in die Gegenstände ein, womit er zugleich sein Bewusstsein verändert.
Der Revisor
Immer wieder suchte die Kant’sche Philosophie auch Anschluss an die arbeitende Klasse. Ein Durchbruch gelang mit Eduard Bernsteins Revision. Am Ende seiner »Voraussetzungen des Sozialismus« (1899) schickt der SPD-Theoretiker nicht zufällig Kant als Sachverständigen vor, um mit der »Hegelschen Dialektik« gleich auch Marx aus dem Marxismus herauszuwerfen. Er glaubte, dass der Sozialismus sich aus dem Kapitalismus evolutionär entwickeln würde, sodass diese politische Einbahnstraße ohne Endziel die linke Massenpartei geradewegs in die Sackgasse der Kriegskredite 1914 führte.
Mit derselben Absicht, revolutionäre Spitzen des sozialen Fortschritts zu brechen, wird Kant nach wie vor auch an Universitäten gerühmt, Wissensgrenzen aufgezeigt zu haben. Als hätte es nie die Relativitätstheorie, die Quantenphysik, Hiroshima und Nagasaki, den Faschismus, die Mondlandung, die sozialistischen Aufbauversuche, die algorithmusgetriebenen Produktionstechniken, die Nachbildung der Sonne durch die Kernfusion, die zerschundene Erde im Kapitalozän und die Multipolarisierung der Welt gegeben.
In 300 Jahren erhitzte die arbeitende Klasse mehr als einmal die grünen Gläser bis zum Schmelzpunkt, um andere fürs schärfere Sehen zu formen. Was heute von Kant bleibt, ist reine Ideologie, die an den Chefrevisor der bürgerlichen Gesellschaft erinnert.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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